Indem man das Leben verschiebt, eilt es vorüber (Seneca)

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toniludwig Avatar

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Vom Booker-Preisträger Ian McEwan erschien bei Diogenes sein neuester Roman >>Lektionen<< in der bewährten Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben, welcher im Original ebenso in diesem Jahr in London veröffentlicht wurde.

Wohl nicht zufällig ist der Erzähler dieses voluminösen Werkes, Roland Baines, wie der Autor im Jahre 1948 geboren und so weist der Roman durchaus autobiografische Momente auf.

Denn anders als in vielen seiner vorherigen Werke kreist der Autor in seinem 17. Roman nicht um ein zentrales Leitthema, sondern spannt einen gewaltigen Bogen von der Nachkriegszeit bis hin zur gegenwärtigen Corona-Pandemie.

In seinen mit der Kindheit beginnenden Rückblenden nimmt uns der Autor mit zu den vielfältigsten gesellschaftlichen Ereignissen mehrerer Jahrzehnte, eindrucksstark verwoben mit dem nahegehenden persönlichen Schicksal des durch diese Zeit Getriebenen, welches das vorangestellte Zitat von James Joyce >>Erst fühlen wir. Dann fallen wir<< in über 70 Jahren mit Leben erfüllt.

Und diese Schilderungen beginnen schon im ersten Kapitel mit beeindruckenden wie verstörenden Szenen. Die junge Klavierlehrerin der zu diesem Zeitpunkt elfjährigen Romanfigur Roland Baines kneift ihren Schüler schmerzhaft in die Innenseite seines Oberschenkels, doch dies ist erst der Anfang von nachhaltigen Übergriffen auf den Schüler, die in langanhaltenden sexuellen Obsessionen münden.

Dies erfährt der Leser jedoch erst viel später und wird jedoch alsbald von der Vorahnung erfasst, dass dies das Leben von Roland auf immer prägen wird, zumindest im Bezug auf Frauen und Sexualität (eine der wenigen Personen, denen er diese Erlebnisse später überhaupt erzählt, sagt zu ihm, die Klavierlehrerin habe sein Hirn neu verdrahtet).

Und ein zweiter Handlungseinstieg erschüttert zu Beginn : Bains wird von seiner Frau Alissa kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Lawrence (den die Mutter nie gestillt hat) verlassen (und zugleich auch noch mit ihrem Verschwinden aus England als Verdächtigter in Zusammenhang gebracht).

Dies alles geschieht zur Zeit der Tschernobyl - Katastrophe, auf die der junge Vater nachvollziehbar irrational reagiert und schon hier miterleben muss, wie sich eine absurde Wolke der Selbsttäuschung über Europa legt:
nicht nur Moskau wollte keine Fehler eingestehen, auch der Westen meinte, der radioaktive Pesthauch hätte zur Überquerung der Grenze keine Berechtigung.

Eingebettet in die Zeitläufte versucht der Protagonist sein Leben zu meistern und reflektiert über die Jahrzehnte immer wieder nach : über den Tod, Kälte, Stille, Verfall, über die Sinnhaftigkeit des Lebens schlechthin.

Meisterhaft gelingt es dem Autor, die gesellschaftlichen Veränderungen mit den Lebensentscheidungen von Baines zu verknüpfen. Was macht ein Leben aus, wo sind die Wendepunkte, welche Erfahrungen bleiben, was ist Zufall, was unvermeidlich und in welchem Maße sind und bleiben wir die Kinder unserer Eltern.

Unmöglich, diesen mehr als 700 Seiten umfassenden Roman in einer einzigen Rezension zusammenfassen zu wollen.

Nachhaltig bleiben Passagen in Erinnerung, in denen im Jahre 1960 (!) im Internat für Jungs der Englischlehrer über Masturbation spricht und dies in zwei Worten zusammenfasst : >>Genießt es.<<

Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell und die anderen Widerstandskämpfer der >>Weißen Rose<< finden ebenso Eingang in das Buch wie die falsche Einschätzung des sozialistischen Systems von außen (Baines in Ostberlin, dem vermeintlich einzig wahrhaften sozialistischen Staat), weiter über die Perestroika (Gorbatschow ein Narr oder ein Genie), den Mauerfall in Berlin, die einhellige Euphorie hierüber und die in der Folge doch dominierende Trauer über die vergebenen Chancen überall auf der Welt, wo von Jerusalem bis Mexiko wieder Mauern errichtet werden und in den USA das Kapitol gestürmt wird.

Der immer sympathisch bleibende Roland Baines entfaltet dabei keinerlei größeren beruflichen Ehrgeiz, bleibt ohne hochtrabende Pläne, schon die Schule wird er nicht beenden; Gelegenheitsarbeit und Geldmangel bilden ein immer wiederkehrendes Thema.

Aber vielmehr versucht er in der schwierigen Geborgenheit seiner zerrissenen Familie anständig zu bleiben und das kleine Glück wertzuschätzen und auch seine partnerschaftlichen Beziehungen mehr oder weniger aufzuarbeiten, dabei absurde und skurrile Begegnungen meisternd und immer bleibt er seinem Sohn ein liebevoller Vater.

In diesen dystopischen Zeiten (>>Die Welt taumelte um die eigene Achse und wurde an zu vielen Orten von ebenso schamlosen wie ignoranten Menschen regiert, die Meinungsfreiheit war auf dem Rückzug, und die Räume der digitalen Öffentlichkeit hallten vom Geschrei delierender Massen wider.<<) endet der Roman immerhin ein wenig ermutigend für den Leser, denn das letzte Wort gehört in rührend persönlichen Dialogen seiner zugewandten Enkelin.

Ein wenig zu lang der Roman ? Mag sein, doch ex cathedra wollte ich nicht reden.