Meisterhafte Fülle

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Vom Blitzkrieg zum Brexit – McEwans neuer Roman umfasst 70 Jahre Zeitgeschichte, erlebt von Roland Baines und dessen Eltern, dem wir zum ersten Mal zum Zeitpunkt der Tschernobyl-Katastrophe begegnen. Roland wurde gerade von seiner Frau verlassen, die ihm mitteilt, sie habe „das falsche Leben gelebt“, und ist gefordert, seinem neugeborenen Sohn ein Vater zu sein. In den Rückblenden seiner Erinnerung erleben wir die (Vor-)Geschichte, die geprägt ist von den „Lektionen“ dreier Frauen.

Es gibt einige Parallelen zur Biografie des Autors: Eine Kindheit in Libyen, sein Vater ein Militär, eine schwache Mutter, ein geheim gehaltener Bruder, die harte Schulzeit in einem englischen Internat. Im Internat erfährt Rolands Vita den entscheidenden, von der des Autors abweichenden Knick: Seine attraktive Klavierlehrerin Miriam verstrickt den 14jährigen in obsessive Hörigkeit. Dies wird möglich, weil Roland während der Kuba-Krise befürchtet, als Jungfrau sterben zu müssen. Später versteht er: „Die Welt würde sich weiterdrehen. Er hätte überhaupt nichts tun müssen.“ Aus dieser toxischen Gemengelage kann er sich nur durch Flucht bzw. Abbruch seiner Ausbildung entziehen. Die Intensität dieser Erfahrung wird zum unmöglichen Maßstab für künftige Beziehungen. Erst 20 Jahre später wird er in der Lage sein, den Missbrauch und seine daraus resultierenden Verhaltensmuster zu erkennen.

Infolge gelingt es Roland (im Gegensatz zu McEwan) nicht, aus seinen Talenten Gewinn zu ziehen – er lässt sich treiben, wird Barpianist statt Konzerte zu geben, schreibt Sprüche für Glückwunschkarten anstelle von Gedichten und gibt Tennisstunden, statt selbst im Court zu siegen. Er ist kein Macher, im Gegenteil: in seiner Passivität und Reaktivität ist er das Inbild des geworfenen Menschen. „Wie leicht es doch war, sich durch ein nicht selbst gewähltes Leben treiben zu lassen und einzig auf Ereignisse zu reagieren. Nie hatte er eine wichtige Entscheidung getroffen.“ Die einzige aktive Entscheidung, die Roland in seinem Leben trifft, ist die für seine langjährige Freundin und Geliebte Daphne, die ihm schließlich hilft, seine Geschichte zu verstehen und ihm somit die letzte „Lektion“ erteilt.

Alissa, Rolands halb-deutsche Frau, entwickelt sich unterdessen zur Literatur-Ikone, die in einem Atemzug mit Thomas Mann und Günter Grass genannt wird. Schöne Ironie McEwans: Roland werden quasi von der Literatur Hörner aufgesetzt. Die Beschreibung ihrer Werke trifft auch auf die McEwans zu, der „selbstbewusst und wie in Zeitlupe direkt unter den Blicken der Leser die riesige Materialfülle organisiert.“ Permanent springt die Erzählung zwischen den Zeiten; dennoch verliert man beim Lesen niemals die Orientierung oder fühlt sich durch die Menge der eingebauten Fakten überfordert. Ihm gelingt das Kunststück, Breite und Tiefe zu vereinen. Noch jede Nebenfigur hat Profil.

Was macht nun ein gutes Leben aus? Ist Alissas Regal voller Weltliteratur, das sie geschaffen hat, das Opfer der Beziehung zum leiblichen Sohn wert? Ein schöner Kunstgriff von McEwan, einer Frau diese Rolle zuzuweisen – denn bei männlichen Genies hat sich diese Frage noch nie gestellt. Nebenbei weiht er uns durch Alissa in seinen Schreibprozess ein: “Ich borge mir hier was und da. Ich erfinde. Ich schlachte mein eigenes Leben aus. Ich bediene mich überall, verändere, biege es mir so zurecht, wie ich es brauche. […] Alles, was ich je erlebt habe. Alles, was ich weiß, und jeder, dem ich jemals begegnet bin – all das wird von mir zu dem vermengt, was ich erfinde.“

„Lektionen“ mag in seiner (niemals langweiligen) Opulenz ein altmodischer Roman sein; sicherlich hat er nichts gemein mit dem Solipsismus aktueller Buchpreisträger. Wie McEwan die Folgen von Rolands Beschädigung durch Miriam nachempfindet, und wie sich diese Verletzung mit dem Zeitgeschehen zu genau diesem Lebenslauf verbindet – das ist die ganz große Kunst eines Altmeisters. Dieses vollkommen durchschnittliche Leben zu begleiten, das am Ende doch gut wird, weil „ein wenig Anstand“ vorhanden war, war für mich ein wunderbar befriedigendes und versöhnliches Leseerlebnis.

Ein Buch, das ich aus vollem Herzen empfehlen kann.