philosophisches Spätwerk?

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martinabade Avatar

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Ein neuer Mc Ewan. Angekündigt in den Vorschauen des Verlages und der Vertriebler. Da habe ich bestimmt als eine der ersten in den Startblöcken gesessen. Und dabei ist McEwan ein fleißiger Autor. In der Regel lässt er die Fangemeinde nicht länger als zwei Jahre auf einen neuen Titel warten. Und jedes Mal öffnet sich ein anderes Universum, manchmal stilistisch, immer inhaltlich. Von „Amsterdam“ über „Solar“, „Kindeswohl“ bis hin „Die Kakerlake“. Und nun 700 Seiten „Lektionen“.

Und wieder eine vollständige Überraschung.

Protagonist des Textes ist Roland Baines, in all seinen Lebensphasen. Als kleiner Junge, der in Libyen groß wird. Als Soldatensohn. Als Internatsschüler. Als Ehemann von Alissa und Vater von Lawrence. Als Gehörnter, der allein in seinem heruntergekommenen und vermüllten Londoner Haus sitzt, sich um Baby Lawrence kümmert und auf eine weitere Postkarte seiner durchgebrannten Gattin wartet. Ein Poet, der nach Inspiration sucht, wenn der Säugling schläft. Sein Geld bekommt er entweder vom Amt, durch Lohnschreiberei oder das Dichten von Knittelversen für die wachsende Grußkartenindustrie.

McEwan nimmt uns mit zurück in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Führt uns Phänomene der Zeitgeschichte vor Augen, die wir lange hinter uns glauben. Die Kuba-Krise, die die Internatsschüler in große Aufruhr versetzt und zu Atomwaffenexperten werden lässt, die Tschernobylkatastrophe, gegen die Roland Lawrence und sich entgegen der eigenen Skepsis mit dem Abkleben der Fensterritzen versucht zu schützen und nicht zuletzt die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik, dem einzigen Land der Welt, in dem der Kommunismus erfolgreich als Staatsform gelebt werde.

Doch diesen langen, einer Meditation gleichenden, stetig fließenden Erzählfluss lesen wir immer unter dem Brennglas seiner Begegnung mit der Klavierlehrerin im Internat, Miriam Cornell. Ist es eine Erweckung, ein Missbrauch, eine Vergewaltigung? Die „erfahrene Frau Mitte zwanzig“, die Frau Lehrerin, lehrt ihn viele Spielarten des körperlichen Miteinanders und Zusammenseins. Unterwerfung, Ekstase, Zärtlichkeit. Roland wird Miriam-süchtig; Frauen und die sexuelle Begegnung mit ihnen werden ein Fixpunkt in seinem Leben.

Und wenn wir zu Beginn der Lektüre noch unsere Nasen wie literarische Trüffelschweinchen in die Seiten halten, um herauszufinden, was denn nun autobiografisch und was erfunden sei; nach spätestens 40 Seiten spielt die Antwort auf diese Frage keine Rolle mehr.

Aus der Rückschau sehen Roland und seine Leserschaft klar: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh‘n tun sie beide nicht.“

(„Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ aus „Die Dreigroschenoper“. Brecht/Weill).