Viel und noch mehr - Ein großes Buch

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Der Titel ließ es bereits erahnen: Der neue Roman von Ian McEwan, einem erfolgreichen zeitgenössischen britischen Autor, trägt den Titel "Lektionen". LektionEN. Plural. Leichte Lektüre ist bei McEwan nie zu erwarten, aber dieses Buch übertrifft andere Werke, ist epischer, ist größer ist viel mehr.

Kern des Romans ist Roland Baines. Man begleitet den jungen Roland durch seine Kindheit in Libyen, wo er als Sohn eines britischen Offiziers aufwächst, folgt ihm durch seine Schulzeit, die nicht zuletzt durch seine Klavierlehrerin bedeutsam für sein restliches Leben wird, erfährt von einem durchwachsenen Leben, erzieht mit dem dann alleinerziehenden Vater seinen Sohn Lawrence und fragt sich die ganze Zeit: Ist seine Frau Alissa eine Märtyrerin oder ein Feigling? Dazu geht es noch um die Personen, die Rolands Leben berühren: Seine beste Freundin Daphne, ein Pärchen in Ostberlin, geplagt durch die Restriktionen der DDR, eine Schwiegermutter, deren Leben über Umwege Einfluss auf Rolands Leben nimmt, der nie gekannte Bruder, der in sein Leben tritt - auf 709 Seiten umspannt Ian McEwan ein ganzes Menschenleben und nimmt dazu auch gleich die wesentliche europäische Geschichte zwischen 1950 und 2022 mit.

Das erschlägt - und schlägt gelegentlich auch einen zu selbstherrlichen Ton an. Es bleibt die Frage, was eine Leserin, was ein Leser aus diesem umfassenden Roman mitnehmen soll.

In den Roman hineinzufinden ist schwer, denn hier wird nichts chronologisch erzählt. Das erste Kapitel ist eine Herausforderung, der Erzähler hier springt zwischen den verschiedenen Zeiten hin und her. Erst ganz allmählich beginnt sich ein Sinn hinter allem zu entfalten, sodass man folgen kann. Dann jedoch spielt der Roman seine Stärken aus. Trotz der wenigen Dialoge liest es sich gut und schnell - einzelne politische oder historische oder philosophische Kommentare aus Rolands Innenleben ausgenommen, die überflüssig und zum Teil auch nervig sind. Trotzdem schafft es der Roman große Fragen zu stellen und die Spannung über die Suche nach den Antworten aufrechtzuerhalten.

Die Antworten überlässt Ian McEwan aber zum großen Teil am Ende seiner Leserin und seinem Leser. Das ist bereits aus seinem großartigen Roman "Abbitte" bekannt. Insbesondere die moralischen Fragen wirft der Autor auf, deutet Lösungsmöglichkeiten an und bleibt in dieser vagen Schwebe, um seine Leserschaft geistig herauszufordern.

Ich mag das. Sehr.

Das sind die "Lektionen", die die Leserschaft braucht.

Insgesamt bleibt "Lektionen" für mich eine tolle Leseerfahrung, die ich vermutlich ohne das kostenlose Rezensionsexemplar nicht gewagt hätte. Das ist auf den ersten Blick kein Roman, den man sich "einfach so" kauft. Aber mir wäre etwas entgangen und so wird auch anderen womöglich etwas entgehen.

Im Roman heißt es: "[Roland] hielt es für extrem schwierig, einen guten Roman zu verfassen, und es auch nur halbwegs zu schaffen, war schon eine Leistung." (S. 529)

Ian McEwan hat mehr als nur "eine Leistung" mit diesem Roman vollbracht - und leicht war es zweifelsohne nicht. Aber ich danke Ihnen, Mr. McEwan, für Ihre Mühen mir Mühe zu machen!

4 Kleeblätter für eine umfassende Lektüre voller Gedankenanregungen mit gelegentlichen Längen