Was prägt ein Leben?

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elisa Avatar

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Kann ein einziges Ereignis richtungsweisend für das ganze Leben sein? Verantwortlich für Gelingen und Mißerfolg von Liebesbeziehungen, beruflichem Werdegang und Persönlichkeitsentwicklung? Für Glück und Unglück eines ganzen Lebens? Die Antwort ist ja. Bei Roland Baines sind es ein Ereignis und zwei Entscheidungen. Auf das Ereignis hat er keinen Einfluss, es widerfährt ihm im Alter von elf. An den daraus resultierenden Entscheidungen ist er beteiligt. Deren Ausmaß für sein Leben kann er nicht einschätzen, als er sie trifft.

Roland wird 1948 geboren. Weil sein Vater Major in der Army ist, wechselt die Familie mehrmals den Wohnsitz. Den größten Teil seiner frühen Kindheit verbringt Roland in Libyen. Viele Geheimnisse umgeben seine Eltern, und seine Kindheit ist geprägt von dem Gefühl, dass in seiner Familie etwas nicht stimmt, doch er kann es als Kind nicht entschlüsseln. Jahrzehnte später, nach dem Tod beider Eltern, klärt es sich auf.

Drei Frauen prägen sein Leben. Zuerst ist da Miriam Cornell, seine Klavierlehrerin in dem englischen Internat, das er von seinem elften Lebensjahr an besucht. Die Begegnung mit ihr ist es, die sein ganzes Leben, seine Laufbahn, maßgeblich beeinflussen wird. Mit Mitte dreißig heiratet er Alissa Eberhart, eine deutsche Lehrerin mit ausgeprägten literarischen Ambitionen. Aber Alissa verlässt ihn und macht ihn zum alleinerziehenden Vater des gemeinsamen Sohnes Lawrence, der noch ein Baby ist. Schließlich Daphne, seine engste und verlässlichste Freundin über den größten Teil seines Lebens.

Roland braucht lange, um zu sich zu finden. Mit keinem seiner Talente gelingt ihm der große Coup, zehn Jahre lang lässt er sich treiben, erst das Baby macht in sesshaft. Sein Leben ist von vielen Fragen geprägt. Die mächtigste davon ist, was wäre gewesen wenn, bzw richiger: wenn nicht? Welche Menschen hätte er getroffen, welche nicht?

Historisch spannt McEwan einen großen Bogen von Mitte der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bis in unsere Tage. Dabei pickt er sich einige weltpolitische Ereignisse heraus, die dem Leben seines Protagonisten seine Klangfarbe geben: Kuba-Krise, Falkland-Krieg, Super-Gau in Tschernobyl, Deutsche Teilung, Mauerfall und Wiedervereinigung, Brexit und Corona-Lockdown bilden das Gerüst für das Leben Roland Baines.

Am Anfang habe ich etwas gehadert mit diesem Roman. Er war mir in Teilen zu langatmig, zu ausufernd, vielleicht auch zu überfrachtet. Diese Meinung habe ich nach der Lektüre revidiert. Die Verknüpfung von entscheidenden Wendepunkten in Rolands Leben mit weltgeschichtlichen Ereignissen finde ich außerordentlich geglückt. Beeinflusst die Geschichte unsere persönlichen Entscheidungsprozesse? In Rolands Fall: ganz klar ja, ohne die Kuba-Krise, die Angst vor dem nahen Tod durch eine nukleare Katastrohphe, hätte er eine folgenschwere Entscheidung zu diesem Zeitpunkt nicht getroffen: Er hätte seine Klavierlehrerin nicht aufgesucht. Deren Ambitionen sind dem/der LeserIn schnell klar, aber nicht Roland.

Wie viel Ian McEwan steckt in diesem Roman? Einiges vermutlich. Über Geburtsjahr und –ort, Beruf des Vaters, das Leben im Ausland, 2 Ehen gibt es eine Reihe von Parallelen zwischen dem Autor und seinem Protagonisten. Wir haben es mit einem autofiktionalen Roman zu tun. Stilistisch bleibt McEwan sich treu: er wechselt die Erzählperspektive nicht. Wir folgen durchgängig Rolands Gedanken, die nicht immer chronologisch sind. Seine mäandernden Gedankengänge erfordern zuweilen Konzentration beim Lesen. An dieser Stelle finde ich die Parallelen zur Weltgeschichte als Orientierungshilfe äußerst hilfreich.
Ich bin nicht (mehr) die Liebhaberin langer Romane. Doch bei diesem Buch mache ich eine Ausnahme, durchzuhalten hat sich gelohnt, und ich wüsste auch nicht, wie McEwan sich hätte kürzer fassen können. McEwan hat uns eine Geschichte geschenkt, mit der man sich gedanklich lange beschäftigen kann. Vielleicht wagt man auch die Frage: wie war oder ist das denn bei mir? Gab es da ein Ereignis, das meine Weichen gestellt hat? Jede/r Leser/in stößt immer mal wieder auf ein Buch, das persönliche Saiten anschlägt. “Lektionen“ ist so ein Buch.

Einmal mehr hat Ian McEwan einen großartigen, klugen Roman geschrieben, dem ich viele LeserInnen wünsche. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben.