zeitgeschichte und biografisches geschickt miteinander verwoben

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blätterwald Avatar

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Jetzt wird McEwan auf seine alten Tage noch richtig geschwätzig, möchte man angesichts der Seitenzahl seines neuen Romans meinen. Doch im Gegensatz zu anderen Autoren ist hier nicht eine Seite überflüssig.
Der Protagonist Roland Baines, geboren 1948, entblättert hier sein Leben. Gleich zwei der prägendsten Ereignisse werden zu Beginn geschildert, zum einen die Geschichte mit seiner Klavierlehrerin, die Roland laut Aussage seiner späteren Frau, neu verdrahtet hat im Gehirn. Und zum anderen der Weggang seiner Frau Alissa, die Roland mit dem neugeborenen Lawrence allein lässt.
Der Erzählstil ist typisch für McEwan und ebenso, wie er sorgfältig nicht nur mit seinen Figuren umgeht, sondern auch sein ganzes Erzählen. Man kann diesen Roman fast mit autobiografischen Zügen lesen, immerhin ist der Autor auch 1948 geboren. Und wie er alles miteinander verwebt, ein ganzes gelebtes Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, eingebettet in Zeitgeschichte und immer so, dass er den Leser mitnimmt. Die Zeitsprünge sind weder willkürlich noch derart gestaltet, dass sie überfordern.
Viel Raum nimmt selbstverständlich Alissa ein, die Roland verlässt, als gleichzeitig das Reaktorunglück von Tschernobyl passiert. Neben allem privaten bekommt der Leser gleich Geschichtsunterricht und weder der Westen noch der damalige Osten kommen gut dabei weg. In dieses Ereignis hinein wird Roland verlassen. Er steht mit dem nicht einmal ein Jahr altem Baby allein da.
Gleich bei welchem Ereignis in seinem Leben, reflektiert Roland sein eigenes Leben und das, was um ihn herum geschieht. Immerhin ist die Kubakrise nicht ganz unschuldig an seinem ersten sexuellen Erlebnis mit einer Frau.
Frauen spielen eine große Rolle in seinem Leben und offen berichtet Roland über seine ganzen Eskapaden, auch wie sie sein Leben beeinflussen und bei allem, was passiert, bekommt der Leser aber keine Generalabrechnung über die bösen Frauen, sondern Roland berichtet schonungslos ehrlich, aber nie kitschig und stellt sich selbst nicht als das Opfer der Geschehnisse dar, sondern als Handelnder. Man mag nicht alles gutheißen, was und wie Roland es gemacht hat, aber es war sein Leben.
Beim Erzählen der Geschichte bekommt man Einblicke in seine verworrenen Familienverhältnisse ebenso wie in die Familie seiner Ehefrau. Vieles bedingt einander, um die Verhaltensweisen der Protagonisten zu verstehen. Inklusive des geschichtlichen Hintergrunds sei es das Leben in Westberlin mit den Besuchen in Ostberlin, Mauerfall, der 11.09.2001, Brexit oder Corona, alles findet statt und seinen Raum in diesem Roman. Geschickt wird das eingewebt in die Biografie Rolands und der Leser staunt nur wieder über die Erzählkunst des Autors. Es gibt aber keine Längen, da muss man keine Sorge haben.
Viel Raum nimmt selbstverständlich der Weggang von Alissa ein und der Leser bekommt die Chance, selbst darüber zu urteilen. Roland erzählt und zeigt auf, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben. Ebenso verfährt er mit seiner Klavierlehrerin, die einen minderjährigen Jungen verführt. Auch alle anderen Begleiter in seinem Leben, gleich, wie eng sie an Roland sind, bekommen die gleiche Behandlung. Das gefällt mir hier sehr an diesem Roman, der nicht umsonst den Titel „Lektionen“ trägt.
Man könnte noch so viel mehr aufführen, die über 700 Seiten bieten ausreichend Stoff. Mich hat wieder einmal die Erzählkunst des Autors begeistert und auch die Präzision und das handwerkliche Geschick. Dieser Roman ist ganz großes literarisches Kino und langweilt nicht eine Seite lang.