Ein Kurzurlaub am Wattenmeer

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Marlene hat gerade ihr Studium abgeschlossen und weiß nicht so recht, wohin mit sich. Also entschließt sie sich, erstmal einen Saisonjob auf einer Insel im Wattenmeer anzunehmen. Das Besondere: Ihr Arbeitsort ist ein Erlebnisdort, das so gestaltet ist wie um das Jahr 1900 herum üblich war. Das bedeutet, es gibt keinen Metzer sondern eine Räucherei, keine Cafés sondern ein Teehaus, und keine modernen Geräte, sondern altmodische Küchenwaagen – zumindest offiziell. Denn schnell lernt Marlene, hinter die Fassaden zu blicken und die Gebäude im Dorf als das zu erkennen, was sie sind: Kulissen. Denn natürlich kann man im Dorf auch mit Karten bezahlen, und die Zimmer im Gästehaus sind selbstverständlich mit Regenduschen ausgestattet. Ganz anders als die Baracken, in denen das Personal untergebrach ist: Diese liegen hinter der sogenannten Kostümgrenze, ab welcher alle Angestellten sich nur noch in ihren zugeteilten Kostümen und ohne moderne Gerätschaften wie Handys oder Armbanduhren bewegen dürfen. Marlene lebt sich schnell ein, und bleibt doch eher für sich. Sie erkennt, dass die anderen Angestellten aus ganz verschiedenen Gründen auf die Insel kommen: manchen gefällt die Arbeit und die Abgeschiedenheit, anderen gefällt vor allem das Geld, das sich dort in einer Saison verdienen lässt. Nach einer Weile lernt Marlene Janne kennen, die in der Räucherei arbeitet und keine Saisonkraft ist, sondern fest auf der Insel wohnt. Die beiden kommen sich näher, und doch wirkt es auf Marlene als würde Janne sie auf Distanz halten.
Kristin Höller hat mit „Leute von früher“ ein Buch voller Melancholie und unbeantworteter Fragen geschrieben. Das Setting ist toll gewählt, einerseits der Naturraum Wattenmeer, der eine raue und doch ruhige Atmosphäre schafft, andererseits das Erlebnisdorf mit seinen Geheimnissen und geflüsterten Mythen. Auch die Beschreibung der Saisonkräfte als eingeschworene und doch lose Gemeinschaft von austauschbaren Schauspielern im Gegensatz zu den neugierigen Touristen, die nur zu gerne über historische Ungenauigkeiten hinwegsehen, hat mir gut gefallen. Die Erzählung rund um Marlene ist weniger stringent verlaufen, als ich das erwartet hätte, und entsprach auch nicht ganz dem, was mir der Klappentext vermittelt hatte. Trotzdem hatte ich Freude dabei, mit ihr die Saison zu erleben, und mich dem Zauber der Vergangenheit hinzugeben. Allerdings bleibt das Verhältnis zu Marlene, wie auch den anderen Charakteren, eher kühl, was eine harmonische Reflektion der beschriebenen Wetterverhältnisse darstellt. Insgesamt war „Leute von früher“ eine angenehme und unaufgeregte Lektüre, die mich mit viel Liebe zum Detail für eine Weile ins Wattenmeer entführt hat.