Packend und vielschichtig

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Kristin Höller ist mit achtundzwanzig Jahren noch eine sehr junge Autorin, die trotzdem schon ein beachtliches literarisches Werk aufweisen kann. Verschiedene Hörspiele, ein Theaterstück und einen Roman, der gleich mit dem Kranichsteiner Jugendliteraturstipendium ausgezeichnet wurde, hat sie bisher veröffentlicht . Da sind die Erwartungen an ihren zweiten Roman dementsprechend hoch.
Im Zentrum von „ Leute von heute“ steht eine junge Frau. Marlene, Ende Zwanzig, hat endlich ihr neun Jahre dauerndes Studium abgeschlossen und hängt gerade etwas in der Luft. Für ihr Studienfach „ Medienpraxis“ besteht auf dem Arbeitsmarkt wenig Bedarf. Das muss sie immer wieder feststellen, wenn sie auf diversen Jobportalen unterwegs ist. Zur Überbrückung nimmt sie eine Arbeit als Saisonkraft an. In einem Erlebnisdorf auf der nordfriesischen Insel Strand wird sie als Verkäuferin in einem Kramladen arbeiten. In diesem Dorf wird den Touristen ein Leben wie zu Ende des 19. Jahrhunderts vorgegaukelt. Fachwerkhäuser mit Strohdächern, Inschriften wie Webstube, Tischlerei, Fischräucherei usw., Kopfsteinpflaster, knospende Sträucher rund um den Dorfplatz vermitteln eine heimelige Atmosphäre . Zahlreiche Saisonarbeiter in entsprechender Kostümierung halten die Inszenierung am Laufen.
Bald erregt Janne, eine junge Frau von der Insel, Marlenes Aufmerksamkeit. Langsam kommen sich die Beiden näher und eine zarte Liebesbeziehung entwickelt sich. Doch Marlene spürt, dass Janne, wie andere Einheimische auch, ein Geheimnis mit sich trägt, ein Geheimnis, das mit der Vergangenheit der Insel zu tun hat.
Die Autorin vermag es, den Leser von Anfang an zu fesseln. Sehr gut kann sie sich einfühlen in ihre Hauptfigur. Marlene steht für viele junge Menschen heute, die zwar über eine gute Ausbildung verfügen, doch auch mit bald Anfang Dreißig immer noch nicht wissen, wo ihr Platz im Leben ist. Das unverbindliche Studentenleben ist vorbei, doch wie es weitergehen soll, ist fraglich. Zwar hat sie in ihren Freunden Luzia und dem homosexuellen Robert eine verlässliche Stütze, doch schon ihre Beziehung zu Paul ist locker und unverbindlich. Der Kontakt zu ihrer Familie beschränkt sich auf ritualisierte Geschenke und Besuche. Einzig zur Großmutter besteht eine innigere Bindung. Doch auch sie weiß nichts von Marlenes Job auf der Insel. „ Marlenes Leben jetzt, ihr langes Studium, die Urlaube mit Luzia, die Wohnung mit Robert - all das war für ihre Großmutter der Prolog zu ihrem richtigen Leben, einem, das ihr noch bevorstand.“
Auch ob sie eine intensivere Beziehung zu Janne möchte, weiß Marlene erst, als es beinahe zu spät ist. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen beschreibt die Autorin sehr feinfühlig und behutsam und mit großer Selbstverständlichkeit.
Mit dem Roman erhält man aber auch einen guten Einblick in die Arbeitswirklichkeit von Saisonarbeitern. Wenig Freizeit und viel Reglementierung bestimmen den Alltag. Untergebracht sind die Arbeitskräfte in einfachen Baracken mit kleinen Zimmern, gemeinsamer Küche und gemeinsamen Sanitätsbereich. Hier ist wenig von der inszenierten Idylle des Dorfes zu spüren.
Und als Leser schaut man hinter deren Fassade. Die vermeintlich originale Kleidung, die alle Mitarbeiter hier tragen müssen, stammt aus dem Fundus eines Theaters. Die Kekse, die Marlene in ihrem Kramladen verkauft, sind genauso wenig selbst gemacht wie die Marmelade oder der Holundersirup. Nur die Etiketten werden von Hand geschrieben. Doch die Touristen sehen das, was sie sehen wollen.
Janne dagegen zieht eine Parallele zwischen diesem Erlebnisdorf heute und der Piraterie von früher. Was früher die Irrfeuer waren, die man anzündete, um an die Fracht der Schiffe zu kommen, ist heute das Dorf mit seiner Scheinwelt.
Aber die Existenz der Insel ist bedroht. Der Klimawandel lässt das Wasser steigen, jede Flut richtet mehr Schaden an. Schon lange soll deshalb ein neuer höherer Deich gebaut werden, doch wirtschaftliche Interessen stehen dem entgegen.
Dabei hat man doch ein Mahnmal direkt vor Augen. Der Ort Rungholt ist vor ein paar hundert Jahren von einer großen Flut zerstört worden und liegt seitdem im Wattenmeer versunken. Legenden darüber werden im Ort noch wachgehalten.
Die Autorin verhandelt in ihrem Roman viele Themen, ohne dass er überladen wirkt. Alle stehen mit der Hauptfigur und der Geschichte in logischer Verbindung und werden unangestrengt in die Handlung eingebaut. Die Auflösung des dörflichen Geheimnisses nimmt zwar eine Wendung, die mir normalerweise nicht so liegt. Doch hier erscheint sie passend. Der Titel „ Leute von früher“ erschließt sich erst gegen Ende, geht doch der Roman vor allem um „Leute von heute“.
Die Autorin überzeugt überdies mit einer schönen Sprache, lebendigen Dialogen und einer differenzierten Figurenzeichnung.
„ Leute von früher“ ist ein fesselnder Roman, der sich zu lesen lohnt.