Eine leise, aber intensive Geschichte

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leukam Avatar

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Mit ihrem fünften Roman ist der 1977 in Hermannstadt in Siebenbürgen geborenen Autorin wieder ein großer Wurf gelungen. Obwohl sie schon seit 1985 in Deutschland lebt, siedelt sie ihre Geschichten im Land ihrer Kindheit an , im Banat und in Siebenbürgen.
Erzählt wird hier die Geschichte von Lev und Kato. Eine innige Freundschaft besteht seit Kindheitstagen zwischen ihnen. Mit elf Jahren war Lev wegen einer rätselhaften Lähmung seiner Beine wochenlang ans Bett gefesselt und Kato brachte ihm täglich die Hausaufgaben.
Aufgewachsen sind sie im Maramuresch, einer ländlichen, waldreichen Gegend im Norden Rumäniens, Kato ohne Mutter und mit einem trinkenden Vater und Lev ohne Vater. Der kam bei einem Bergrutsch ums Leben, als Lev gerade mal fünf Jahre alt war .
Es ist eine Kindheit und Jugend im Rumänien unter Ceausescu. Viele träumen vom Weggehen, von einem Leben in Freiheit. Und als 1989 endlich der Eiserne Vorhang fällt, ergreift Kato die nächstbeste Möglichkeit zum Aufbruch in den Westen. Doch der Kontakt zwischen den beiden reißt nicht ab. Aus jedem Land, in dem sie einige Zeit wohnt und sich ihren Lebensunterhalt durch Straßenmalerei verdient, schickt sie Lev eine selbstgemalte Postkarte. Und als sie ihn nach fünf Jahren fragt „ Wann kommst du?“ , da macht sich Lev auf nach Zürich. Nach einigen Wochen quer durch Europa, kehren sie gemeinsam nach Rumänien zurück.
Für ihre Geschichte hat Iris Wolff eine ungewöhnliche Erzählweise gewählt: Sie erzählt sie rückwärts, d.h. sie beginnt mit Kapitel „ Neun“ und endet mit Kapitel „ Eins“. Dabei wählt sie entscheidende Episoden aus, Geschehnisse, zwischen denen jeweils einige Jahre liegen. Das sorgt für Spannung beim Leser und erfordert einiges Mitdenken. Dabei wird erfreulicherweise längst nicht alles auserzählt, sondern Iris Wolff lässt Leerstellen und vertraut dem Leser.
Nach und nach gewinnen so die einzelnen Figuren Konturen, Verbindungen und Beziehungen zwischen ihnen werden hergestellt und es wird verständlich, was sie zu denen werden ließ, die sie sind. So sind nicht nur die Unterschiede im Charakter - da die unerschrockene und freiheitsliebende Kato, hier der sensible und zögerliche Lev - maßgeblich für ihr Verhalten. Im Verlaufe der Lektüre wird deutlich, was Lev geprägt hat, warum er nach Liebe und Beständigkeit sucht, musste er doch schon früh traumatische Verluste erleben.
Themen wie Freundschaft und Liebe und die fließenden Grenzen davon werden in Variationen durchgespielt, ebenso wie Fragen nach Herkunft, Wurzeln und Identität.
Im Vielvölkerstaat Rumänien finden sich verschiedene Volksgruppen, Sprachen und Kulturen, die im Verlaufe der Geschichte neben- und miteinander existiert haben. So hat sich Levs Großvater Ferry irgendwann dafür entschieden , Österreicher zu sein. „ Er sei als Österreicher in dieses Jahrhundert gestartet und, obwohl er sich geographisch nicht vom Fleck bewegt hatte, Rumäne geworden, dann Ungar“ und nun weist ihn sein Pass wieder als Rumäne aus. Doch jahrelanges vergebliches Warten auf die Ausreisepapiere lassen ihn die Flucht über die grüne Grenze nach Wien antreten. Aber ist er nun dort angekommen, wo er hingehört? Diese Frage muss Ferry verneinen. „ Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender.“
Lev dagegen, mit einer siebenbürgischen Mutter, einem rumänischen Vater und einem Großvater mit österreichischen Vorfahren, verweigert sich einer Einordnung und Vereinnahmung.
Die große Geschichte wird an vielen kleinen Details aufgezeigt und spiegelt sich im Schicksal der Protagonisten.
So beschreibt die Autorin anschaulich das Klima von Lähmung und Misstrauen während der Diktatur und welche Auswirkungen auf Menschen und Landschaften die Öffnung des Eisernen Vorhangs hatten. Während die einen nichts mit der so sehnlichst erhofften Freiheit anfangen konnten, beginnt der Exodus der anderen. Verwaiste Dörfer, verfallene Kirchen, heruntergekommene Wohnblocks und stillgelegte Fabriken zeugen davon.
Nicht nur mit ihrer Sprachmacht überzeugt Iris Wolff. Sie beschwört Landschaften und Stimmungen, schafft Atmosphäre und Bilder, die in Erinnerung bleiben, ist gleichzeitig präzise und poetisch. Sprache selbst wird auch von ihr thematisiert. In der Schweiz begreift Lev „ Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe.“ Und das vertraute Rumänisch zwischen Lev und Kato weckt Erinnerungen an früher.
Die Reflexionen über Erinnerungen führen zu den titelgebenden „ Lichtungen“. „ Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens,…Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“
„ Lichtungen“ ist eine leise, aber intensive Geschichte, mit seiner ungewöhnlichen Struktur und seiner besonderen Sprache von hohem literarischen Niveau. Ein wunderbares Buch, das unbedingt einer Zweitlektüre bedarf. Ob man dann von hinten beginnen möchte und die Geschichte chronologisch aufrollen will oder ob man die gewählte Erzählform beibehält und sie nun mit dem gewonnenen Wissen intensiver liest, steht jedem frei. Auf jeden Fall ist „ Lichtungen“ ein Roman, der viel Stoff zur Reflexion bietet und sich somit bestens für Lesekreise eignet.