Orwell "1984" - The Update...

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botte05 Avatar

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„Menschen optimieren ihre Körper mit Hilfe von Apps, teilen ihre persönlichen Daten in der Cloud und laufen mit Google Glass durch die Straßen, um ihr Leben als Videoclip mitzuschneiden und für immer abzuspeichern. Sieht so unsere Zukunft aus?

In seinem klugen Buch lotet Stefan Selke die Folgen einer Zeitenwende aus. Die als Innovationen gefeierten digitalen Lifestyle-Produkte werden nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch die elementarsten Aspekte des Menschseins verändern. Wie können wir das Digitale mit dem Menschlichen versöhnen?“ – Zitat Buchrücken.

„Am Anfang war die Uhr und am Ende steht die Black Box“ – so könnte man die historische Entwicklung der des Lifeloggings von seinen rudimentären Anfängen bis hin zur Zukunftsvision kurz zusammenfassen. Um zu verstehen, was Lifelogging ist, muss man jedoch tiefer einsteigen. Der Soziologe Prof. Dr. phil. Stefan Selke beleuchtet dieses Thema unter Berücksichtigung aller Aspekte und zeigt dem geneigten Leser die Licht- und Schattenseiten einer allumfassenden Selbstvermessung auf. Anhand von Nachlesen, Zuhören, Ausprobieren, Mitmachen, Erfahren und sich austauschen weiß er, was dieses Lifelogging nun wirklich so ist und was es ausmacht.

Die Erfindung der Uhr hat seinerzeit unser aller Leben verändert. Plötzlich wurde das Leben unserer Ahnen nicht mehr vom natürlichen Zyklus der Tageszeiten, sondern von festen Uhrzeiten bestimmt. In der Industrialisierung nahm die Zeitmessung weiteren Raum ein und wurde zu einem Kontroll- und Druckinstrument. Heute sind Uhren und die Einhaltung von festen Terminen nicht mehr wegzudenken. Und dieses Prinzip verfolgt Lifelogging. Es soll in der Vision der Erfinder entsprechender Hilfsmittel zum festen, allgegenwärtigen Bestandteil des menschlichen Lebens werden.

Die Idee der „Propheten“ mündet darin, eine Black Box für den Menschen anzubieten. Das ganze Leben, alle Erlebnisse, alle Kontakte – komplett in einer Cloud zentral abgespeichert. So könnte im Falle einer normalen Vergesslichkeit, Amnesie, Demenz oder des eigenen Todes Einblick in die Vergangenheit genommen werden. Man könnte einen Avatar – eine Kopie seiner selbst – erschaffen. Man könnte seinen eigenen Lebensfilm zurück spulen, um aus vergangenen, ungut verlaufenen Situation zu lernen und es zukünftig besser zu machen. Was so idealistisch klingt, birgt aber auch seine Gefahren.
Unser Hirn speichert alle Erlebnisse und Ereignisse unseres Daseins ab. Es überlagert, verschiebt, komprimiert und bietet auch die „Gnade des Vergessens“. Eine Black Box basiert auf knallharten Fakten, lässt keinen Raum für Interpretation oder Beschönigung.

Um aber einen vollständigen Datensatz über mein Leben für meine Black Box zu produzieren, bin ich den ganzen Tag eigentlich mit nichts anderem mehr beschäftigt. Weil vollautomatisch geht das heute alles noch nicht. Ich filme, fotografiere, vermesse, kommentiere und versuche, Emotionen hinzuzufügen. Dann muss ich die Daten, die nicht automatisch aktualisiert oder generiert werden, noch posten, hochladen, transferieren und gegebenenfalls anhand von Eingabemasken vereinheitlichen. Und wenn ich das alles schon gemacht habe, muss ich mal eben kurz gucken, wie ich mich im Vergleich zu anderen in meiner Sportart, bei meinen gesundheitlichen Parametern und dergleichen heute „geschlagen habe“. Habe ich meine Ziele nicht erreicht, steigt der Druck; ich muss mich mehr anstrengen, mehr investieren, mehr disziplinieren. Und während ich mein Leben so beobachte, vergesse ich im ungünstigsten Fall, selbst zu leben.

Und was ist da eigentlich mit dem Datenschutz? Wir alle rufen laut danach. Aber die Vision von George Orwell in „1984“, wo der Mensch fremd überwacht wird, wurde längst von einer „freiwilligen“ Selbstüberwachung und Preisgabe dieser Überwachung an eine Öffentlichkeit überholt. Will ich wirklich, dass jeder alles von mir wissen kann, wenn er möchte?

Oder was ist mit dem benötigten Speichervolumen für die gesamte Lifelogging-Community? Komprimierungsraten ändern sich, Speichermedien werden „neu erfunden“ – wer soll diesen ganzen Datenwust verwalten, überwachen und dafür sorgen dass auch nichts verloren geht?

Was ganz harmlos mit der Anschaffung einer Pulsuhr und dem Vorsatz, mehr Sport zu treiben, beginnt, kann unter Umständen ein ungeahntes Ausmaß an Datenproduktion auslösen. Denn der Anbieter der Pulsuhr bietet mutmaßlich schon eine App an, damit ich meine Körperdaten optimal vergleichen, auswerten und verwalten kann.
Leider verkümmert der Mensch unter Umständen hierbei zu einem Werkzeug, einem Aufgaben-Erfüller. Erreiche ich Ziele, werde ich belohnt; scheitere ich, werde ich ermahnt. Der Druck, Leistungen zu erbringen, steigt; der eventuelle Konkurrenzdruck trägt sein Eigenes mit dazu bei. Der Mensch wird zum Werkzeug, ferngesteuert durch die Technik. Und stellt der User noch Abweichungen fest, kann dies sogar richtig krank machen.

„Lifelogging“ – bislang hatte ich gar keine Vorstellung davon, was dies genau sein soll und kann und welche Ausmaße die „digitale Selbstvermessung“ in unserer Gesellschaft aktuell bereits angenommen hat. Dieses Buch hat mir die Augen für eine Seite der Gegenwart geöffnet, welche mich nur am äußersten Rande betrifft und an der ich persönlich gar nicht tiefer teilhaben möchte. Und Hand aufs Herz: wer will denn wirklich alles in seinem Leben nochmal en Detail sehen / erleben?! Da begebe ich mich für diese Zeit doch lieber z. B. in die Natur und er-lebe etwas Neues, an das ich mich gerne zurückerinnern kann!

Dies ist ein Buch für diejenigen, die sich grundsätzlich mit diesem Phänomen beschäftigen möchten und für Betroffene eine Art Beipackzettel zu „Risiken und Nebenwirkungen“.

Rezension: Stefan Selke, Lifelogging, Econ, gebundene Ausgabe, Sachbuch, 368 Seiten, 19,99 €, Erscheinungsdatum: 09.05.2014