Lebenswertes Leben für alle

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botte05 Avatar

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„Herbst 2009, Sandra Roth ist im neunten Monat schwanger. Mit Lotta, einem Wunschkind, die Vorfreude der Familie ist groß. Doch bei einer Routineuntersuchung erfährt sie, dass das Gehirn ihrer Tochter nicht mit ausreichend Blut versorgt wird. Welche Konsequenzen diese Gefäßfehlbildung für das Leben von Lotta haben wird, können die Ärzte nicht vorhersagen. »Lotta ist eine Wundertüte«, sagt ein Arzt. »Man weiß nie, was drin ist«. Lotta könnte ein »Rollstuhl-Baby« sein, so nennt das ihr zwei Jahre älterer Bruder Ben. Während er auch gerne einen Rollstuhl hätte, weil man dann nicht selbst laufen muss, setzen sich die Eltern mit anderen Fragen auseinander: Wie lebt es sich mit einem behinderten Kind in einer Gesellschaft, die alles daransetzt, Behinderungen und Krankheiten abzuschaffen? Wie reagieren Freunde, Nachbarn, Kollegen? Und was wird Lotta für ein Leben haben – eingeschränkt, ausgegrenzt? Oder angenommen und geliebt?“ – Zitat Klappentext.

„Wie sind wir hierhergekommen?“ – diese Frage stellt Sandra Roth sich am Anfang und am Ende des Buches. Zwischen diesen beiden Fragezeichen lässt sie den Leser biographisch am Leben ihrer Familie in ihrer völlig unerwarteten und außergewöhnlichen Situation teilhaben. Sachlich erzählt und doch hoch emotional erlebe ich Lottas dreijährigen Weg in und durch unsere Welt. Und das Leben ihrer Familie mit den bestehenden und den ständig neuen, sich verändernden Hürden, deren Latten immer wieder höher gelegt werden und die es zu überwinden gilt. „Das schaffen wir“ ist das Mantra der Eltern, ein Scheitern wird nicht akzeptiert. Es gibt keine Effekthascherei, kein „Tal der Tränen“, keine Gefühlsduselei, was dem Buch eine gnadenlose Authentizität verleiht und mich tief ergreift und mitnimmt.

Familie Roth - das sind ganz normale Menschen, Leute so wie Du und ich, und so reagieren sie auch ganz normal und menschlich. So normal, dass manch einer damit sogar Probleme hat. Es gilt, einen riesigen Spagat zu schaffen, den Seiltanz zwischen Eltern eines behinderten Kindes mit hohem Pflegeaufwand zu sein, Eltern eines weiteren „normalen“ Kindes zu sein und dem Erstgeborenen sein Recht auf kindgerechtes Leben und Zuwendung zu erfüllen sowie sowohl als Ehepaar, als auch als Individuum nicht einander oder gar sich selbst zu verlieren.

Die ersten drei Jahre sind geschafft und doch ist noch immer nicht klar, welche Überraschungen die „Wundertüte Lotta“ noch offenbaren wird. Ich möchte der Familie Roth alles Gute und viel Kraft für ihren weiteren Weg wünschen und bedanke mich, dass ich ein wenig an ihrem Leben teilhaben durfte.

Dieses Buch ist für mich jedoch nicht nur eine Art Biographie, sondern hält dem Leser und unserer Gesellschaft einen Spiegel vor. Ich selbst erkenne mich an der einen oder anderen Stelle in meinem Unvermögen, bin aber über die gedankenlosen Äußerungen und Taktlosigkeiten mancher Mitmenschen schlicht und ergreifend entsetzt. Ich kann dieses Buch nicht sachlich rezensieren, dieses Buch schreit danach, nicht sofort vergessen zu werden und den Leser anzuregen, sich in Diskussionen über Pränataldiagnostik, lebenswertes Leben und Inklusion einzumischen und an der Gestaltung unserer zukünftigen Gesellschaft mitzuwirken. Denn jetzt kann ich nicht mehr sagen „Das habe ich nicht gewusst“.

„Lotta Wundertüte“ ist ein sehr gutes Buch. Ein Buch, das m. E. „jeder“ lesen sollte. Ein intensiver „Blick über den Tellerrand“ und an der einen oder anderen Stelle ein Stück weit Lehrbuch für das Leben und was wirklich wichtig ist.

Rezension: Sandra Roth, Lotta Wundertüte, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Sachbuch, gebundene Ausgabe, 272 Seiten, 18,99 €, Erscheinungsdatum: 15.08.2013