Recht auf Leben

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matheelfe Avatar

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„_…Aber wie ihr alle habe auch ich nicht darum gebeten, auf diese Welt zu kommen…“_

 

Jenny arbeitet im Kongo, um das Leben der Bonobos zu studieren. Doch der Krieg kommt immer näher. Sie muss fliehen. Quer durch den Dschungel rennt sich zum Camp des Forschers Donald Stone. Aber die Rebellen waren schneller. Donald Stone ist tot. Dafür findet Jenny ein 15jähriges Mädchen namens Lucy. Beide versuchen, die nächste Siedlung zu erreichen.

Geistesgegenwärtig hatte Jenny aus Donald Stones Hütte zwei Pässe und seine Tagebücher mitgenommen. Doch Lucys Pass ist abgelaufen. Durch Vermittlung gelingt es Jenny, Lucy einen Pass zu besorgen. In Amerika nimmt sie das Mädchen bei sich auf, bis ihre Verwandten gefunden sind. Väterlicherseits gibt es allerdings keine. Als Jenny die Tagebücher liest, weiß sie, dass sie auch nach mütterlichen Verwandten nicht zu suchen braucht. Lucy ist das Ergebnis eines biologischen Experiments…

Im Mittelpunkt des Romans steht nicht die Zeugung Lucys. Sie wird zwar angesprochen und bewertet, doch es geht darum, wie die Menschheit, im speziellen Fall die amerikanische Gesellschaft, mit ihr umgeht. Es geht um ihr Recht auf ein eigenständiges Leben, ja zugestimmt sogar um ihr Lebensrecht überhaupt. Nach außen hin ist Lucy ein Teenager wie jeder andere. Natürlich muss sie sich nach 15 Jahren Urwald an das Leben in der Gesellschaft anpassen. Eine große Hilfe ist ihr dabei ihre Freundin Amanda.

Doch dann kommt der Moment, wo eine Blutuntersuchung notwendig wird. Jetzt lässt sich der genetische Unterschied nicht mehr leugnen. Amanda und Lucy gehen per Internet an die Öffentlichkeit. Lucy erzählt ihre Geschichte in einem Video. Daraus stammt das obige Zitat.

Nun spaltet sich die Gesellschaft.

Der Autor hält uns einen Spiegel vor. Wie weit geht unsere Menschlichkeit? Wie gehen wir mit jemand um, der für seine Existenz nichts kann? Was macht den Menschen aus?

Das Buch ist spannend geschrieben. Ich habe mit Lucy gefiebert und gehofft, dass ihr manche Erfahrung erspart geblieben wäre. Gleichzeitig zeigt der Autor, dass er sich in der Biologie auskennt.  Meiner Meinung nach sind die Zusammenhänge, die nicht fiktiv sind, wissenschaftlich fundiert dargelegt.

Der Roman ist sehr emotional. Er stellt unser Verhalten den Tieren gegenüber in Frage. Das betrifft insbesondere Forschungseinrichtungen. Und er stellt das Menschenbild in Frage, das ein Anderssein ablehnt. Das Versagen der Politik ist eines der dunkelsten Kapitel des Buches.

Die Protagonisten sind überzeugend charakterisiert. Das betrifft vor allem diejenigen, die sich auf die Seite von Lucy stellen. Amanda ist für ihr Alter sehr reif. Sie hat die Schattenseiten des Lebens kennengelernt und zeigt uns, wie weit wahre Freundschaft geht.

Dem gegenüber steht Fanatismus und Wissenschaftswahn ohne Rücksicht auf die Folgen.

Lucys Bestreben, normal leben zu dürfen, und ihr wissen, dass sie in manchen Situationen eben anders reagiert, sind ausgezeichnet herausgearbeitet. Diese innere Zerrissenheit kennzeichnet auch das Verhältnis zu ihrem Vater. Sie braucht Zeit, bis sie ein Handeln akzeptiert. Begreifen wird sie es wohl nie ganz.

Lucy lehrt uns aber noch was anderes. Sie zeigt uns, dass wir die Verbindung zur Natur verloren haben. Dass, was sie „den großen Strom“ nennt, ist für die Menschen nicht mehr existent. Der Roman führt aus, dass einige damit auch Begriffe wie Mitgefühl, Menschlichkeit und Erbarmen verlernt haben.

Wer das Buch bewusst gelesen hat, für den bekommt der Begriff „Toleranz“ eine ganz neue Bedeutung.

Der Stil des Autors passt zur Handlung. Die Wortwahl ist angemessen. Er geht sehr sensibel mit diesem ernsten Thema um. Das Buch ist keinesfalls moralisierend geschrieben. Es überzeugt durch die Gespräche, durch das Miteinander der Protagonisten und durch die Verbohrtheit eines Teils der Gesellschaft.  

Wer sich für ethische Fragen der Gesellschaft interessiert, dem kann ich das Buch nur empfehlen. Es hat mich tief bewegt und zum Nachdenken über das eigene Menschenbild und über die Werte des Lebens gebracht.