Tiefgründig suchend und luftmaschenfein erzählt - mit Tiefseekrake!

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Guerillahäkeln, selektiver Mutismus und eine sabotierende Tiefseekrake auf dem Seelensofa – mit diesen drei Gedanken lässt sich der Kosmos des neuen Jugendromans von Anne Becker umreißen. Schon Regina Kehns wunderbares Cover deutet an, dass es hier um zwei Figuren gehen wird, deren leben sich eng ineinanderschlingen werden und die dennoch Geheimnisse voreinander behalten werden: Zwei Paar Beine baumeln von den Ästen eines Baumes, der mit einem bunt gestreiften Mantel aus Wolle in fröhlichen, warmen Farben umgarnt ist. Die Fäden umschlingen aus die beiden Figuren, deren Oberkörper jedoch unsichtbar bleiben, weil sie über den Bildrand hinausragen. Der zarte angedeutete Hintergrund der Stadt verblasst vor der leuchtenden Yarnbombing-Aktion im Vordergrund – Kehn macht sichtbar, wie im Vergleich zu dieser leuchtend starken Freundschaft alles andere in den Hintergrund tritt.
Zwei Zeitstränge verwebt Anne Becker in ihrer fein gesponnenen Geschichte von der Freundschaft zweier starker Mädchen, von Mut und Vertrauen. Von Beginn an springt sie zwischen dem Beginn der Freundschaft zwischen Mats und Ricci, geschildert aus der Ich-Perspektive von Mats, und Mats’ Sprachnachrichten an Ricci nach einer angedeuteten Katastrophe, einem Vertrauensbruch, der zur Trennung der beiden führt. Damit zurrt Becker gleich zwei Spannungsfragen in ihren Erzählfäden fest: Was ist diese Katastrophe, und wie kommt sie zustande? Und: Ist die Freundschaft der Mädchen damit erledigt, oder gibt es noch eine Chance, dass Ricci und Mats wieder zueinander finden?
Beide Mädchen schleppen einen Sack an Problemen mit sich herum. Ricci (Riccarda) ist neu in der Klasse und wird von den Mitschülern gleich als seltsame Unruhestifterin eingestuft; dass sie sich in der Stadt herumtreibt und Fragen nach ihrer Wohnung und Familie ausweicht, lässt eine belastete Vorgeschichte erkennen. Mats, die eigentlich Matea heißt, fällt die Verständigung mit Menschen außerhalb ihres engsten Familien- und Bekanntenkreises schwer: Nicht nur Fremden gegenüber, auch in der Schule bleibt sie stumm und bekommt kein Wort über die Lippen. Dass ihre Mutter Pfarrerin ist, so dass im Elternhaus ständig Menschen aus- und eingehen, belastet Mats’ Kommunikation zusätzlich. Selbst das Einkaufen in der Bäckerei erscheint ihr als beinahe unüberwindliches Hindernis. Ihre einzige engere Vertraute, die alte Nachbarin Frau Loose, die ihr das Häkeln beigebracht hat, ist vor Kurzem gestorben. Mats nutzt ihre Häkelkunst, um in tollkühnen nächtlichen Häkelaktionen die Umgebung zu verschönern. Bei einer dieser Aktionen wird sie Ricci erwischt, die ihr aber spontan hilft, statt sie zu verraten oder in Frage zu stellen. Mats wird klar, dass sie mit Ricci sprechen kann, weil die ihr offen und selbstverständlich zuhört und sie mitsamt ihrer Kommunikationsstörung akzeptiert. Und Ricci erweist sich rasch als starke Freundin und Unterstützerin, die Mats gegen Sticheleien einer Mitschülerin verteidigt und dabei auch Beziehungen zwischen Mats und anderen Mitschülern vertieft. Und doch scheint auch Ricci ein Problem mit der Kommunikation zu haben – denn sie schafft es nicht, Mats ihre ganze Geschichte anzuvertrauen. Aus diesem Nicht-ganz-richtig-miteinander-Reden entspinnt sich die entscheidende Belastungsprobe für die Freundschaft der beiden Mädchen …
Becker zeichnet Mats und Ricci als lebendige und vielschichtige Figuren, deren Begegnungen und allmählich aufblühender freundschaftlicher Beziehung ich gerne und gespannt gefolgt bin. Ein besonders schöner Erzählkniff dabei ist es, dass gerade die anderen Menschen gegenüber weitgehend stumme Mats hier als Ich-Erzählerin dient und so offenbaren darf, dass sie innerlich keineswegs stumm oder abgestumpft sind. Das Bild, mit dem Mats sich ihre Kommunikationsstörung personifiziert – die launische Tiefseekrake Madame Schüchtern, die wahlweise mal Rosendurft-Teelichter anzündet, Konfettikanonen abfeuert oder sich zu einem harten Klumpen zusammenballt, sorgt dabei auch in angespannten Situationen für einen Schuss Komik und Entlastung, ebenso wie die Gespräche im Schutzraum von Mats’ Familie (die fast ein bisschen zu harmonisch geraten ist). Man fragt sich doch, ob Madame nicht auch als Anspielung auf Stefanie Höflers „Tanz der Tiefseequalle“ zu lesen ist!
Bei allem Humor und allem Vergnügen an den vielfältigen Konfrontationen mit anderen, denen Mats sich ausgesetzt sieht, kommt in der Handlung aber auch die Spannung nicht zu kurz (Wer ist der geheimnisvoller „Schieler“?), ebensowenig wie die Entwicklung der Figuren. Ich habe mitgefiebert mit Mats und Ricci bis zum Ende – und jetzt juckt es mir in den Fingern, Häkelnadeln und Wollknäuel rauszukramen und selbst irgendetwas draußen in der Stadt zu behäkeln!