Ein schonungsloser Roman über die Folgen sexueller Gewalt

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mrscatastrophy Avatar

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Liv ist selbstbewusst, modeaffin, Ehefrau, Mutter von zwei Kindern - und wurde vor Jahren vergewaltigt. Gegen den Opferbegriff und allgemeine Vorstellungen über Vergewaltigte wehrt sie sich. Sie möchte dem nicht nachgeben, da sie dies als Schwäche empfindet und ermöglicht sich zugleich, weiter zu funktionieren, indem sie sich nicht zu sehr damit auseinandersetzt.

Bis in der Pflegeeinrichtung, in der sie arbeitet, ein Prominenter auftaucht, dem unter großer medialer Aufmerksamkeit Vergewaltigung vorgeworfen wurde. Zunehmend bröckelt Livs Fassade.

Der Norwegerin Heidi Furre ist mit diesem dünnen Buch ein Roman gelungen, der sprachlich eindrücklich, intensiv und schonungslos das Innenleben einer vergewaltigten Frau beschreibt. Eindrücklich, da mit gewaltiger Bildsprache und leisen Tönen gearbeitet wird. Intensiv, da Furre ihre Leserinnen nicht vor der Verletztheit, den Emotionen und dem Ärger der Protagonistin schont, ihren Substanzmissbrauch ebenso schildert wie die nach dem Trauma verinnerlichten Schutz- und Überlebensmechanismen. Und schonungslos, da sie Liv unglaublich ehrlich auch die Gedanken aussprechen lässt, die wohl viele Betroffene sexueller Gewalt kennen, aber selbst nicht aussprechen würden. Beispielsweise, wie sehr sie durch Mechanismen wie internalisierte Misogynie ihre eigene Verantwortung für den Vorfall suchen, de Täter in Schutz nehmen und andere Frauen, die Vergewaltigungserfahrungen öffentlich machen, kritisieren, abwerten, verachten.
Furre schildert, wie mangelnde Aufarbeitung die Betroffenen zerfressen kann, wie aber auch der gesellschaftliche Umgang mit sexueller Gewalt ihnen schadet.

Sehr viele Themen also, und das, obwohl im Buch, zumindest in der Außenwelt, selbst gar nicht viel passiert: Liv geht zur Arbeit, kommt nach Hause, geht einkaufen, kümmert sich um die Kinder. Hält die Routine aufrecht. Innerlich aber sieht das anders aus, denn das Buch ist in weiten Strecken ein innerer Monolog der Protagonistin, die sich durch eine einzige Veränderung im Außen - den prominenten möglichen Sexualstraftäter - mit ihren Coping-Mechanismen, der Verleugnung und Retraumatisierung auseinandersetzen muss.

Das mag alles zunächst niederschmetternd klingen, aber der Titel des Romans verrät bereits: Hier geht es auch um Kraft. Nämlich darum, wie sich nach einem solchen Ereignis die (Handlungs-)Macht über das eigene Leben zurückgewinnen lässt, wie wichtig es ist, über Vergewaltigungserfahrungen zu sprechen und den Tätern darüber Macht zu nehmen. In diesem Sinn ist auch das Cover wahnsinnig gut gewählt: Manchmal gehört auch die Zerstörung (von Routinen, Narrativen, Überzeugungen) zur Heilung dazu. In diesem Roman steht sie im Zentrum. Dass zur Verbildlichung dieser konstruktiven Zerstörung immer wieder auf die großartige Künstlerin Niki de Saint Phalle rekurriert wird, ist dann das Sahnehäubchen auf einem auch so schon klugen Buch.

Durch die Intensität eignet sich das Buch nicht als leichte Nachmittagslektüre. Ich habe es über einige Tage gelesen, oft nur wenige Seiten, da das Buch wirken muss. Dann aber entfaltet es eine ziemliche Wucht. Für mich deshalb eins der besten Bücher, die ich seit langer Zeit zu dem Thema gelesen habe.