Eine von zehn Frauen…

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cara_lea Avatar

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… die im Laufe ihres Lebens vergewaltigt werden. Mit dieser Statistik im Kopf läuft die Protagonistin Liv durch das ruhige Wohnviertel eines Stadtteils von Oslo, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt. Liv führt ein normales Leben, ist angekommen und scheint nach Außen hin, glücklich zu sein. Doch niemand, nicht einmal ihr Ehemann weiß, dass sie vor Jahren vergewaltigt worden ist und jeden Tag mit den Konsequenzen des Erlebten zu kämpfen hat.

Die Handlung wird nicht chronologisch geschildert, und ich fand es gut, dass die Vergewaltigung, also die eigentliche Tat, zuerst überhaupt nicht erklärt oder thematisiert wird. Das wird im letzten Drittel des Buches nachgeholt, und ich habe lange darüber nachgedacht, ob es nicht besser gewesen wäre, es komplett wegzulassen. Müssen die Leser*innen tatsächlich darüber informiert werden oder ist es nicht ausreichend, den Fokus komplett auf Livs Perspektive und ihre Erlebnisse mit der Zeit danach zu erfahren?

Das Buch wirft einen direkt hinein. Es gibt keine Schonfrist und während des gesamten Buches gibt es keinen einzigen Moment, in dem man kurz aufatmen kann. Liv hat die Vergewaltigung lange verdrängt, hat sie nicht beim Namen nennen können, wollte kein Opfer sein und hat die Tat nie zur Anzeige gebracht. Und dennoch ist sie in Gedanken ständig bei ihrem Vergewaltiger. Überlegt, was er gerade macht, wie er sich fühlt. Sie sucht ihn im Internet, findet heraus, wo er mit seiner Familie wohnt, und fährt zu seinem Haus. Liv setzt alles daran, die Kontrolle zu bewahren und sucht Flucht im Alkohol, Schmerz- und Beruhigungsmitteln, in ihrer Kaufsucht und einem Schönheitswahn, da sie versucht, mit Botox und der perfekten Kleidung nach Außen hin jemand zu sein, der sie im Inneren gar nicht ist. Sie versucht, die Kontrolle zurückzuerlangen, doch eigentlich ist man die ganze Zeit mit einer Frau konfrontiert, die sich zwanghaft an jedem bisschen Kontrolle festhält und sich dabei völlig selbst verloren hat.

Es ist definitiv keine leichte Lektüre. Die Autorin Heidi Furre beschreibt eindringlich Livs Situation und lässt die Leser*innen sehr nah an den Gedanken der Protagonistin teilhaben. Dabei bleibt sie oft beinahe schmerzhaft sachlich und sorgt dadurch für eine gewisse Distanz und Unnahbarkeit. Die Beziehung zu Livs Ehemann und ihren Kindern erscheint eher ein Mittel zum Zweck zu sein. Die Charaktere bleiben farblos und bekommen keine eigene Stimme. Einiges ist unverständlich geblieben, und insgesamt wirkte Livs Verhalten oft ein wenig konfus und undurchsichtig.
Dennoch habe ich das Buch insgesamt sehr gerne gelesen, falls man bei dieser Thematik überhaupt so davon sprechen kann. Die Thematik hat aufgerüttelt, zum Nachdenken angeregt und dafür gesorgt, dass man für kurze Zeit Livs Perspektive einnehmen konnte.

Ein wichtiges und lesenswertes Buch!