Einschlagend

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fraedherike Avatar

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„Solche Sachen passieren jeden Tag, dachte ich. Was schon nicht so schlimm. Ob es nun mir oder jemand anderem passiert war, das war nicht von großer Bedeutung.“ (S. 28)

Ich sehe es in ihren Gesichtern. Den Schmerz, der sich unter der Maske verbirgt, der Blick in den Spiegel eine Aufforderung. Wo immer ich bin, zähle ich. Eine von zehn. Wissen die anderen um diese Zahl? Wissen sie... sehen sie es mir auch an? Eine von zehn Frauen in Norwegen ist Opfer einer Vergewaltigung geworden. In einem Raum mit zehn Personen erfülle ich die Quote. Das Leben bleibt nicht stehen, ich muss weitermachen. Muss meine Kinder erziehen, meinen Mann lieben, meine Patienten versorgen. Ich muss lächeln; es ist eine Maske. Mein Leben ist perfekt, das sagt sie: Ich habe einen Mann, Kinder, ein schönes Haus; ich lebe. Mein Körper ist verwirrt von diesem täglichen künstlichen Lächeln. Nachdem es geschah, habe ich einen Damm gebaut, um die Erinnerung von mir fernzuhalten. Weitermachen zu können. Ich dachte, sicher zu sein, doch immer wieder bringt etwas die Erinnerung hoch. Die Erinnerung ist etwas Körperliches, sie zeigt sich in den Zwischenräumen, in den alltäglichen Dingen. Und ich habe Angst. Alleine auf den Straßen, in der Nacht. Davor, dass jemand, ein Mann, Macht über mich ausüben könnte. Aber ich habe keine Angst vor Männern, jeden Abend liege ich neben einem, meinem Mann, helfe ich meinem Sohn beim Anziehen. Mein Zuhause ist der sicherste Ort der Welt. Auch das: Selbstbetrug. Nein, ich habe Angst vor dem Unmenschlichen, vor dem Gewalttätigen. Davor, dass mein Körper wie eine stumme Puppe behandelt werden könnte. Noch einmal. Terje weiß nichts davon, was mir angetan wurde. Ich habe ihm schon lange nicht mehr in die Augen geblickt. Ich muss die Macht über mein Leben, über mich zurückgewinnen. Gerade jetzt, wo er aufgetaucht ist.

„Erst schrieb ich unfreiwilliger Sex, das tat nicht so sehr weh. Aber das stimmte nicht denn das war kein Sex. Wenn Sex eine gemeinsame Handlung mit gegenseitigem Einverständnis ist, dann war das kein Sex. Also schrieb ich sexualisierte Gewalt, ich schrieb Missbrauch, ich schrieb sexuelles Trauma, aber nichts davon stimmte. [Ich] konnte dieses Wort nicht ertragen. Vergewaltigung.“ (S. 27)

Jeden Tag sieht Liv die Scherben auf dem Boden liegen. Die Scherben von dem Tag, als sich ein Körper auf sie legte, sie zerbrach. Es sind ihre Scherben, die Heidi Furre in dem Roman „Macht“ aufliest, zusammensetzt, um sie zu heilen. Eine jede Scherbe enthält Gedanken, die Liv gegenwärtig umtreiben: Sie erzählt sachlich, lakonisch und kalt, wie betäubt fast. Jeden Satz wählt sie mit Bedacht, beschreibt ihren Alltag als Mutter, als Ehefrau, als Pflegerin. Als Betroffene – die sie nicht sein will. Wachen Auges beobachtet sie ihre Umwelt, beruft sich einem Mantra gleich immer wieder auf die Dinge, die ihr helfen, Abstand zu gewinnen, die Unmittelbarkeit und Ernsthaftigkeit zu relativieren, ihre Fassade aufrechtzuerhalten. Bis sie unmittelbar einstürzt. In ihrem Job als Pflegerin fühlte sie sich sicher, sie hatte Abstand zum Leben, sie hatte Macht: Ihre Patient*innen waren von ihr, ihrer Hilfe abhängig. Doch als eine neue Patientin in die Einrichtung zieht, löst sich etwas: Ihr Bruder ist Schauspieler – und wurde vor Jahren bekannt dafür, eine Frau vergewaltigt zu haben. Er wurde nie verurteilt, aber die Erinnerung bleibt. Wann immer er in der Nähe ist, hat sie Angst, seine Augen lösen die Fassade langsam auf. Und gleichzeitig ist es ein Befreiungsschlag, der sie zwingt, sich zu öffnen. Das Mittel: Konfrontation. Reden. Freimachen.

Die lakonisch schneidende, harte Sprache, derer sich Heidi Furre bedient, um Livs Gefühlsleben darzustellen, unterstützt den Inhalt ihrer Worte, die Botschaft, die sie zu vermitteln versucht, unglaublich gut. Dass es nämlich keine Bagatelle ist, dass es Gegenwärtig ist. Sie stellt Liv, die Frau, die Leidtragende, wie sie sich bezeichnet, in den Vordergrund, ihre Ängste, die Anstrengung, die es sie kostet, ein normales Leben zu führen, nicht jeden Tag, bei jeder Berührung, jedem noch so kleinen Ding „daran“, an „den Vorfall“ erinnert zu werden. Ihren Körper als eben das zu betrachten: als Mutterkörper, der liebt, der lebt und atmet, der sich kümmert. Nicht als Objekt, das es zu benutzen gilt. Dennoch lässt sie kontroverse Gedanken, ein Nebeneinander von Bitternis und Empathie zu, lässt Liv darüber fantasieren, wie weit ihre moralischen Grenzen gesteckt sind, Rache zu üben, ihrerseits die Macht zurückzugewinnen und auszunutzen.

Das Buch hat mich mitgenommen, wütend gemacht, weich werden lassen. Und immer wieder diese Sätze, die innehalten lassen, die ich unterstreichen musste, bald waren ganze Seiten schraffiert von grauem Graphit. Schlagende Zeilen, die schmerzen und Augen öffnen. Das waren die ersten zwei Drittel. Doch gen Ende verlor die Geschichte an Biss, was in gewisser Weise auch für die Entwicklung Livs stehen kann, klar. Doch für mein Empfinden war es zu überhastet, gewollt. Davon abgesehen: WOW. Eine große Empfehlung (respektive TW)!