Eine große Liebesgeschichte im Paris der belle Époque

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marionhh Avatar

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Paris, 1911: Die junge Eva Gouel bricht Hals über Kopf aus ihrem provinziellen und bürgerlichen Elternhaus auf ins Paris der Belle Époque, wo sie hofft, als Näherin ihren Weg zu machen. Sie ändert ihren Namen in Marcelle Humbert und will ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Nach Monaten des Darbens verschafft ihr ihre Freundin Sylvette eine Anstellung im berühmten Theater Moulin Rouge. Eva/Marcelle macht sich schnell einen Namen, freundet sich mit Tänzerinnen und Schauspielerinnen an und bewegt sich in Künstlerkreisen. Dabei lernt sie den aufstrebenden spanischen Künstler Pablo Picasso kennen, der mit der berückenden Fernande Olivier zusammen ist. Die beiden treffen sich bei verschiedenen Gelegenheiten und sind fasziniert voneinander. Bald lässt sich nicht mehr leugnen, dass sie voneinander geradezu besessen sind, und sie gehen eine Liebesbeziehung ein. Doch ihnen ist leider nur ein kurzes Glück beschieden, denn Eva hat eine schwache Gesundheit…

Ein tiefgründiger, zu Herzen gehender Roman über eine faszinierende Persönlichkeit und eine große Liebe! Wundervoll geschrieben, sinnlich und niemals vulgär findet die Autorin stets die richtigen Worte, um die explosiven Gefühle der Protagonisten zu beschreiben, und dabei bleiben auch die Nebenfiguren nicht ausgespart. Nebenbei erfährt man einiges über die Belle Époque, eine Zeit des Friedens und des Fortschritts, in der sich Künstler und Dichter, Theater und Musik voll entfalten konnten, und über das Leben der Bohème in Paris. Der Leser muss keinen Kunstverstand besitzen, doch erfährt er natürlich auch einiges über die Entstehung der berühmtesten Kunstwerke Picassos aus dessen kubistischer Periode und über das Wesen des Künstlers. Der Roman verwebt dabei auf spannende Weise historische Fakten und Fiktion, so überzeugend, dass man als Leser sogleich eintaucht ins Paris der Epoche und mitgerissen wird von der Leidenschaft und den explosiven Gefühlen der Protagonisten.

Formal ist der Roman in drei Teile gegliedert: Der erste beschreibt über einen recht kurzen Zeitraum das Kennenlernen von Eva und Picasso, der zweite Teil ihre Zeit zusammen und der dritte, seitenzahlmäßig der kürzeste, die Krankheit Evas und ihre letzten Wochen. Die Geschichte wird fortlaufend erzählt, ist in den Teilen in Kapitel unterteilt, lässt sich flüssig lesen und fesselt von erstem Augenblick an. Anfangs und wenn Eva und Picasso getrennt sind, werden die Kapitel immer abwechselnd aus der Sicht Evas und aus der Picassos erzählt – so gewinnt man gleichzeitig tiefe Einblicke in die Gefühlswelt beider Hauptfiguren. Im Anhang finden sich als Zusatz neben der üblichen Danksagung noch einige Fragen zur Diskussionsanregung sowie ein Interview mit der Autorin. Sehr schön fand ich die Umschlaggestaltung mit der Pariskarte im Inneren der vorderen Klappe. Das Buch ist sehr liebevoll gestaltet und kommt schön kompakt rüber.

Die Geschichte quillt beinahe über von interessanten Charakteren, von denen meines Erachtens – beinahe logisch – der faszinierendste und dabei auch ambivalenteste der Pablo Picassos ist. Zusätzlich haben mich besonders Gertrude Stein und ihr Salon begeistert sowie die Künstler, die um sie herumschwirrten und die Künstlerwelt im Allgemeinen, und auch Fernandes Charakter fand ich spannend. Über allem jedoch schwebt Picasso. Einerseits ein Frauenheld und „typisch“ spanischer Macho, der Frauen entweder als „Göttin oder als Fußabtreter“ sieht und sie auch so behandelt. Seine Beziehung zu Fernande ist von vielen Affairen und Treuebrüchen geprägt. Andererseits ist er zu tiefen Gefühlen fähig, macht sich die Trennung von Fernande sicherlich nicht leicht und kümmert sich rührend um Eva, auch während ihrer Krankheit, was ihm sichtlich schwer fällt. Picasso hadert ständig mit sich und Gott, steckt voller Schuldgefühle und Selbstzweifel, erträgt weder Krankheit noch Tod, und wie anscheinend jeder große Künstler ist er egozentrisch, impulsiv und unberechenbar. An sich ein moderner Mensch, der fernab aller bürgerlichen Normen lebt, steckt er voller Aberglauben, und er lebt seine Sexualität trotz konservativer Wertvorstellungen voll aus. Dass er von Fernande fasziniert ist, die einen ähnlich ambivalenten Charakter hat und leidenschaftlich, aber auch berechnend sein kann, konnte ich gut verstehen. Was aber findet er an der unschuldigen, unsicheren, naiven, weltfemden Eva?

Historisch gesehen ist Eva schwer greifbar, es existieren nicht viele Zeugnisse und Bilder von ihr. Das gab der Autorin natürlich viele Möglichkeiten ihren Charakter auszubauen. Die Eva im Buch ist ein durchaus sympathischer Charakter, und sie macht auch sicherlich eine persönliche Entwicklung durch, so dass sie am Ende sogar Verhandlungen über den Preis von Picassos Bildern führt. Sie lernt viel, beschäftigt sich mit Kunst und ist eine intelligente, pragmatische und vor allem loyale Person. Dennoch kehrt ein Motiv in leicht abgewandelter Form im Buch immer wieder: Wenn sie ein elegantes Kleid trägt, fühlt sie sich selbstsicherer als sie eigentlich ist. Sie streift ein Kostüm über und spielt eine Rolle, und mehr als einmal hat sie das Gefühl, als gehöre sie eigentlich nicht dazu. Erschwerend kommt sicherlich dazu, dass sie anfangs von Picassos Künstlerfreunden nicht richtig akzeptiert wird, die fast alle treu zu Fernande stehen. Das ändert sich erst, als man den Wandel in der Persönlichkeit Picassos erkennt. Sie tut ihm gut, er liebt sie und möchte sie sogar heiraten. Allerdings widmet sich Eva auch komplett Picassos Wohlergehen und ordnet dafür alles in ihrem Leben ihm und seinen Bedürfnissen unter. Sie inspiriert ihn und steht im Modell - eine eigene Persönlichkeit entwickelt sie nicht. Sie bleibt lange Zeit eher schwach und traut sich auch nicht zu ihrer Krankheit zu stehen aus Angst verlassen zu werden. Sie glaubt Picasso liebe sie nur wegen ihres Äußeren. Und in der Tat könnte man anhand von seinen Aussprüchen den Eindruck gewinnen, Picasso würde sich per se nur den schönen Dingen des Lebens widmen wollen und alles Unästhetische und Hässliche von sich wegstoßen. Er glaubt Gott strafe ihn, indem er geliebte Menschen von ihm nimmt. Eva beweist zum Schluss dann aber doch mehr innere Stärke als er, als sie ihm sagt, dass er weiterleben und glücklich werden soll, wenn sie nicht mehr ist, und nicht mit seinem Schicksal hadern soll.

Fazit: Ein sehr lesenswerter, poetischer Roman über eine große Liebesgeschichte vor faszinierendem historischem Hintergrund. Die Belle Époque endete abrupt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Picassos Freunde werden eingezogen, er selber sieht sich als Daheimgebliebener den Anfeindungen der Pariser ausgesetzt, und ein Jahr später ereilt ihn dann der große Schicksalsschlag. Die Frage, ob er Eva treu geblieben wäre, hätte sie länger gelebt, erübrigt sich also. Für mich sind die beiden ein großes Liebespaar in einer faszinierenden Epoche, und Eva hat Picasso zu einigen großartigen Werken inspiriert. Sich ein bisschen für Kunst zu interessieren ist von Vorteil, aber kein Muss, in erster Linie lebt der Roman von seinen faszinierenden Persönlichkeiten, über die man gerne mehr erfahren würde, den Einblicken in ein Künstlerleben und der tollen Darstellung einer leidenschaftlichen Liebe!