Ein Roman mit vielversprechendem Anfang, der mich leider mit Fragezeichen im Kopf zurückgelassen hat.

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buecher.berge Avatar

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»Es ist das Anwesen, das Frauen vertreibt oder sterben lässt. Es ist seine Macht, nicht deine. Du hast sie nur gefunden.«

Luise ist in einem prachtvollen Anwesen an einem See aufgewachsen. Mehrere Häuser, über ein großes Grundstück verteilt, ein Steg am See. Ein Steg, an dem Luise im Verlauf ihrer Kindheit zwei Frauen findet, deren Leichname angespült werden. Ein Umstand, der beunruhigend sein sollte, aber von ihrer Mutter und Großmutter als nichtig erachtet wird. In ihrer Kindheit war sie stets umgeben von den Frauen der Familie: Ihre Großmutter, der das Anwesen gehört, ihrer Mutter und deren Großmutter, ihrer Schwester, ihrer Tante und deren Tochter, der Haushälterin. Ein Anwesen voller Frauen. Nur die Männer fehlten, sind nach und nach abhanden gekommen. Der Großvater, den sie nur einmal gesehen hat. Ihr Vater, der Sohn ihrer Großmutter, der sich aus dem Staub gemacht hat. Die Männer sind bloße Erinnerung und irgendwann noch nicht mal das. Luises Großmutter, die Matriarchin des Anwesens, führte ihren Haushalt stets streng, unnachgiebig, kontrollierte alles und jede. Als sich Leni, Luises Schwester, dem Kontrollzwang und den Lebens- und Wertvorstellungen ihrer Großmutter nicht fügen will, wird sie als Kind vom Grundstück verbannt, ins Internat geschickt. Zurück bleibt Luise, der Augenstern der Großmutter, die sich bereitwillig fügt. Heute steht die Beerdigung von Luises Großmutter bevor. Zum ersten Mal seit Jahren versammeln sich alle Frauen der Familie zu diesem Anlass. Die Last der Zeit, die Geheimnisse und Lügen, die Unstimmigkeiten, Neid und Missgunst, fehlendes Verständnis werden laut, trüben den Tag. So tauchen wir Lesenden ein, begleiten Luise auf ihrer Reise durch die Vergangenheit, begleiten sie am heutigen Tag. Auf ihrer Suche nach Antworten. In Bezug auf sich selbst. In Bezug auf ihre verkorkste, komplizierte, dysfunktionale Familiengeschichte. In Bezug auf die Frage, ob sie es haben will, dieses ihr vermachte Anwesen, dass für eine lange Geschichte des weiblichen Verrats steht.

»Ich war nur von klein auf dazu erzogen worden, mir und anderen Mädchen und Frauen nicht zu glauben, an meiner und der Geschichte jeder Einzelnen zu zweifeln, weil nur so die große Geschichte im Dunkeln blieb.«

Der Anfang des Romans war vielversprechend, hat mich neugierig gemacht und Lust auf mehr. Doch schnell wich diese anfängliche Freude der puren Verwirrung. Hauptsächlich kam ich bei den Frauen durcheinander, ich habe lange gebraucht, bis ich sie auseinander halten konnte und die Verwandtschaftsverhältnisse verstanden hatte. Bis zum Ende habe ich mich gefragt, welche Geschichte hier erzählt werden soll. Welche Rolle die toten angeschwemmten Frauen spielen – wie sich rausstellt, keine. Ja, es ist eine Geschichte über die Frauen dieser Familie. Über ihre Differenzen und Streitigkeiten. Über Missgunst und Verrat. Über Kontrollverlust und Kontrollzwang. Über weiblichen Zusammenhalt. Über Verdrängung. Nur Verdrängung wovon? Was wird hier verdrängt in diesem Buch? Würde man mich fragen, würde ich sagen, es geht um die Frage danach, was Opfer von Täter*innen unterscheidet. Was uns wozu macht, ob wir beides sein können. Doch in Bezug worauf? In Bezug auf die körperliche und seelische Macht, mit der wir andere kontrollieren? In Bezug darauf, was es heißt, eine Frau zu sein im Vergleich dazu, was einen Mann ausmacht? Vielleicht geht es auch um eine Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, zumindest wird er immer wieder angesprochen dieser Krieg und nach der Rolle gefragt, die die Familie in diesem einnahm. Eine Wiederkehr der Opfer-Täter*innen-Thematik. Reicht es, wegzuschauen, um Täter*in zu werden? Kann man einst verlorene Kontrolle wiedererlangen, in dem man andere dominiert? Nein. Doch Familien kann man auf diesem Weg zerstören. Darum geht es: Um eine kaputte Familie. Doch warum sie kaputt ist, das weiß ich nicht. »Männer sterben bei uns nicht« hat in meinem Kopf nur eine endlose Reihe an Fragen zurückgelassen. Wie in dem Zitat auch: Die große Geschichte blieb für mich im Dunkeln. Schade.