Poetische Distanz

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martinabade Avatar

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Ursula Wiegele ist in Klagenfurt geboren und lebt in Graz. So ist der Ton ihres neuen Romans auch spürbar sprachlich österreichisch gefärbt. Man lebt eben „am Land“.

Die Autorin war mir bisher nicht bekannt, nach etwas Recherche habe ich folgende Informationen gefunden (kurz zusammengefasst): vier Romane, Beiträge in Anthologien und Literaturzeitschriften und ziemlich viele Preise und Stipendien. Ich bin gespannt.

Der erste Teil spielt in den Jahren 1940 bis 1945 und glücklicherweise gibt es vorn im Buch ein Personenregister. Emma Prochazka hat vier Kinder: Helga, die Älteste. Alfred, acht Jahre jünger als seine Schwester, und gleich im folgenden Jahr geboren: die Zwillinge Lotte und Fritz. Der Vater der Kinderschar ist Pavel Prochazka. Der Mann war Emmas „böhmisches Unglück“. Betrogen hat er sie, Geld hat er keines rangeschafft. Bis Emma der Kragen geplatzt ist und sie ihm in einer zusammengeliehenen Verkleidung auf dem Weg zu einer seiner kleinen Eskapaden gefolgt ist. Und im „Inflagranti“ hat sie ihn dann erwischt – mit der anderen.

Dies alles ist schon eine Weile her. Seit fünf Jahren arbeitet Emma nunmehr in der Schweiz als Köchin. In der Davoser Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen isst man vor allem ihr süßen Backwaren gern. Die Kinder sind derweil untergebracht, auf Koststellen, bei Oma und Opa, im Internat. Helga ist in ein Kloster eingetreten, ein Maul weniger zu stopfen. Emma vermisst ihre Kinder und die Kinder sie, aber sie kommt selten nach Österreich. Da sind natürlich die Unruhen des Krieges, der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, die Rolle der Schweiz angesichts der Ströme von Geld und Menschen, die gleichermaßen in das offiziell neutrale Land fließen. Vor allem aber will sie Geld verdienen und spart eisern. Sie hat die Schulden abzubezahlen, die der Bohèmien und Faulpelz Pavel ihr hinterlassen hat, und sie spart, um später eine Wohnung zu kaufen. Eine große Wohnung, in der die ganze Familie zusammenkommen kann.

Die Erzählstimmen des ersten Teils sind breit verteilt. Die Leserschaft folgt dem Briefwechsel der verschiedenen Kinder mit ihrer Mutter, nimmt teil an den Gedanken des geschiedenen Gatten auf der Suche nach jungen Witwen. Das Leben ist hart und verlangt viel von allen Familienmitgliedern und trotz der kunstvollen Sprache und den sorgfältig gesetzten Worten bleibt eine spürbare Distanz. Eine Distanz zwischen Emma und den Kindern, die sie teilweise jahrelang nicht sieht. Eine Distanz zwischen der Leserin oder dem Leser und Emma. Ist ihr nicht klar, dass sie Gefahr läuft, durch ihre Abwesenheit die Familie zu gefährden? Dann bleibt die große Eigentumswohnung leer. Da bleibt viel Raum für Interpretation und psychologische Deutung.

Der zweite Teil schwingt in einer ganz anderen Atmosphäre. Die Erzählperspektive wechselt zur ältesten Tochter. Sie hat das Kloster nach Kriegsende verlassen und in Italien ein neues Leben aufgebaut. Aus Anlass eines anstehenden Familientreffens erzählt Helga den Fortgang der Ereignisse nach dem Krieg. Mit der mediterranen Wärme zieht nun auch ein wärmerer, zugewandterer Ton in den Text. Und wir erfahren, was es mit den Malven auf sich hat, als eine Mahnung, nie zu vergessen, was war.

Der Verlagstext sagt: “„Malvenflug“ ist ein großes Familienpanorama, getragen von starken Frauenfiguren.“ Ja, eine Familiengeschichte, aber auf 220 Seiten schreiben sich keine „Buddenbrooks“ und starke Frauen können eben auch harte Frauen sein.