Der Kampf aus 11.000 Metern Tiefe der Trauer - berührend, emotional und humorvoll geschrieben

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
petzi_maus Avatar

Von

Kurz zum Inhalt:
Paulas jüngerer Bruder Tim ist vor zwei Jahren im Mallorca-Urlaub ertrunken. Paula war bei dem Urlaub nicht dabei, da sie auf ein Konzert gehen wollte.
Seitdem befindet sich Paula in einem tiefen Loch, so tief wie der Marianengraben, aus dem sie nicht mehr herauskommt. Durch Selbstvorwürfe, da sie ihrem Bruder doch versprochen hat, immer auf ihn aufzupassen, leidet sie an starken Depressionen. Sie kann nicht einmal Tims Grab besuchen.
Als ihr Therapeut ihr rät, Tim doch zu besuchen, wenn nicht so viele Leute am Friedhof sind, klettert sie mitten in der Nacht über die Friedhofsmauer. In der Nähe von Tims Grab hört sie ein Geräusch und entdeckt einen alten Mann, der in einem Grab mit einem Spaten herumgräbt. So lernt sie Helmut kennen.
Und Helmut und Paula gehen eine ungewöhnliche Symbiose ein, die beiden in ihren schwersten Zeiten hilft...


Meine Meinung:
"Marianengraben" ist eine extrem gut gelungene Geschichte über Trauerbewältigung und Depressionsverarbeitung, die in ich-Form aus Sicht von Paula geschrieben ist. Somit kann man noch tiefer in Paulas Gedanken- und Gefühlswelt eintauchen.
Nachdem die ersten Kapitel noch ziemlich depressiv sind, und man Paulas ausschweifenden Gedanken über ihren Bruder folgen kann (was mich eher nicht angesprochen hat), war ich von dem Wandel der Geschichte positiv überrascht, als Paula Helmut kennenlernt. Diesen schrulligen grummeligen muffigen alten Herrn habe ich trotz seiner abweisenden Art vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen. Er sagt, was er denkt bzw. fühlt. Und genau das braucht Paula.
Denn Paulas Gefühle sind wie in Watte - wie wenn sie 11.000 Meter tief im Marianengraben wäre. Und daraus muss sie sich erst Stück für Stück hervorkämpfen. Die Kapitel sind mit Zahlen bezeichnet, beginnend mit 11.000 - man kann ihre Entwicklung bis zum Ende verfolgen, als die Kapitelüberschrift 0 ist.
Natürlich ist von Anfang an klar, dass Helmut Paula helfen wird, ins Leben zurückzufinden. Trotzdem war es einfach nur wunderschön zu verfolgen, wie der grummelige Alte die junge Studentin in seinem Wohnmobil mit in die Berge nimmt, in die Gegend seiner Kindheit. Denn er hat Helga - deren Urne er ausgebuddelt hat- versprochen, mit ihr in die Berge zu fahren. Ein Roadtrip der etwas anderen Art.
Helmut versteht Paula wie niemand sonst bisher, denn er hat ähnliches durchgemacht: Als Kind seine Schwester verloren, später seinen Sohn und nun Helga.
Ein sehr passendes Zitat gibt es hierzu auf S. 96: "Helmut nickte als wäre das etwas ganz Normales. Meinen Freunden oder Eltern konnte ich sowas nicht erzählen, alle machten sich permanent Sorgen um mich und beobachteten mich wie ein Pantoffeltierchen unter dem Mikroskop. [...] Wenn Trauer eine Sprache wäre, hätte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genauso flüssig sprach wie ich, nur mit einem anderen Dialekt."

Immer wieder denkt Judy an ihren Bruder Tim, der mit 10 Jahren gestorben ist, und an ihre Dialoge mit ihm. Er fand Fische 'megakrass'. Und er hätte wohl auch Paulas Reise mit Helmut megakrass gefunden.
Und auch der etwas verhaltensgestörte, aber liebenswürdige Schäferhund Judy, der Helga gehört hat (die Helmut ausgebuddelt hat), dringt in Paulas Gefühlspanzer ein.
Auch wenn Helmuts Schicksal am Ende total traurig ist, gibt es ein (fast) Happy-End. Mich hat das Buch sehr berührt.

Sehr schön, lebensecht und authentisch fand ich auch folgendes Zitat:
S. 68: "Das Schlimme an der Trauer ist ja, dass sich die Welt um einen herum einfach weiterdreht. Man selbst fühlt sich grauenvoll, doch alle anderen gehen zur Arbeit, besuchen das Kino, schauen Komödien und lachen [...] Man ist plötzlich ganz allein, weil man sich ganz anders anfühlt als die Leute um einen herum. [...] Man ist nicht wichtiger im Lauf der Dinge als die anderen. Die Welt geht auch nicht unter. Der Alltag geht halt so voran und schleppt einen auch irgendwie mit. Und was einem da vielleicht so vorkommt, als sei es eine unglaubliche Qual, ein furchtbarer Affront, ist dann später auch die einzige Chance, wieder zurechtzukommen. Weil man irgendwann wieder in das Karussell einsteigen und mitmachen kann wenn man bereit dazu ist. Eben, weil es nicht stehen geblieben ist. Die Welt wartet nicht auf einen - aber sie läuft einem auch nicht davon."


Fazit:
Ein emotionales Buch, das mich zum Nachdenken angeregt hat, und das mich sowohl zum Heulen als auch zum Lachen gebracht hat. Obwohl es eigentlich nicht in mein typisches Beuteschema passt, war ich positiv überrascht und vergebe 5 'megakrasse' Sterne.