Eine Zufallsbekanntschaft mit Mehrwert

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jenvo82 Avatar

Von

„Gedanken sind oft so unkontrollierbar wie die Liebe, die sie auslöst. Und jetzt liebe ich dich nur noch gefangen in einer Zwischenwelt aus Präteritum und Konjunktiv und in einer Realität, die vor deinem Tod ein Leben und danach nur noch ein Zustand war.“

Inhalt

Paula verkraftet den Tod ihres kleinen Bruders Tim nicht, der bei einem Badeunfall im Urlaub auf Mallorca ums Leben kam. Sie fällt in eine Depression, pausiert mit dem Studium und beginnt eine Therapie, die nur mäßigen Erfolg hat. Zunächst soll sie es irgendwie schaffen, das Grab ihres Bruders zu besuchen, auch wenn ihr sofort klar ist, dass sie das nur nachts machen kann, wenn sie ganz allein ist. Doch auf dem Friedhof trifft sie den alten Helmut, der in der Dunkelheit doch tatsächlich die Urne seiner Ex-Frau ausgräbt. In der Not vereint und vom Friedhofspersonal überrascht, flüchten die beiden gemeinsam.

Helmut schlägt Paula vor, ihn doch im Wohnmobil zu begleiten, denn trotz seiner schlechten gesundheitlichen Lage, muss er das letzte Versprechen, das er der Verstorbenen Helga gegeben hat, zu Ende bringen. Er wird ihre Asche in die Berge bringen und dort verstreuen, an den Ort, den er als Kind und Jugendlicher seine Heimat nannte und wo die Liebe der beiden begann. Für Paula ist das alles eher skurril, doch aus Mangel an anderweitigen Unternehmungen und einem Funken Mitleid, stimmt sie dem Vorschlag zu. Und trotz seiner eigenwilligen Art wächst ihr Helmut bald ans Herz, denn mit seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz an Verlusten und Todesfällen naher Angehöriger, ist er ein echter Trauerexperte, der trotz schwerer Schicksalsschläge nicht aufgegeben hat. Der abenteuerliche Roadtrip mit allerlei eklatanten Zwischenfällen wird für Paula zur besten Therapie überhaupt, denn sie erkennt, dass sie auch ohne Tim weitermachen muss und wenn sie selbst nicht mehr leben würde, dann wäre auch ihr Bruder ohne Spuren aus dieser Welt verschwunden …

Meinung

Die junge Autorin Jasmin Schreiber, die selbst als Sterbebegleiterin arbeitet, thematisiert in ihrem Roman „Marianengraben“ den traumatischen Verlust einer geliebten Person, die schwere Zeit danach und die ersten winzigen Schritte in eine Zukunft, in der das Leben weitergeht.

Dieses Buch hat einen ganz speziellen Ton, der recht ungewöhnlich für die traurige Wahrheit hinter dem ganzen Aktionismus ist, denn an vielen Stellen blitzt Humor auf, ergeben sich spektakuläre Zwischenfälle und dann auch wieder neue, traurige Entwicklungen. Zunächst war mir diese Art der literarischen Umsetzung etwas fremd, denn bedrückende Schwere und emotionale Verzweiflung kommen hier eher wenig vor. Paula führt mit Tim direkte Gespräche, sie erinnert sich an seine muntere, lebensbejahende Art und ihre geliebte Rolle als die große Schwester eines so intelligenten, fröhlichen kleinen Jungens, der schon mit 11 Jahren auf tragische Art und Weise sein Leben verloren hat.

Die Lebendigkeit wird auch in der Gegenwartshandlung sichtbar: eine spannende Reise mit spektakulären Erlebnissen und wenigen aber alles verändernden Gesprächen zwischen einem Mann mit Lebenserfahrung und einer jungen Frau, die es alleine nicht schafft, aus dem emotionalen Tief aufzutauchen und im Marianengraben ihres Herzens zu versinken droht. Der für mich zunächst befremdliche Erzählton hat mir aber immer besser gefallen und passt hervorragend zur Gesamtaussage des Romans und zu den jungen Menschen, die als Protagonisten auftreten. Überhaupt gelingt es der Autorin einprägsame, detaillierte Personenbeschreibungen anhand von kleinen Anekdoten aus dem Leben erlebbar zu machen. Sowohl Paula als auch Helmut bereichern die Geschichte ungemein und ergeben ein seltsames Paar, welches trotz aller Unterschiede doch auch genügend Gemeinsamkeiten aufweisen kann.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für einen traurig-schönen Roman über das Leben, das Sterben und sämtliche Nuancen des persönlichen Verlusts. Manchmal war mir der Stil zu lapidar, die Erlebnisse so humorvoll und lebensbejahend erzählt. Doch dazu muss man bedenken, dass Tims Todeszeitpunkt schon 2 Jahre zurückliegt, die Trauer also gar nicht mehr so neu für Paula ist und auch Helmut hat über viele Jahre seines Lebens verteilt immer wieder eine kleine Dosis von Abschieden hinnehmen müssen.

Idealerweise liest man das Buch ohne aktuellen Trauerfall oder dann, wenn man an dem Punkt angelangt ist, an dem man einsieht, dass der geliebte Mensch in dieser Welt nicht mehr greifbar sein wird, das eigene Leben aber auch einen Sinn besitzt und nicht nachlässig weggeworfen gehört. Für diese Zeit, in der es ganz langsam wieder aufwärts geht, macht die Reise von 11.000 km unter der Wasseroberfläche zurück nach oben viel Mut und bringt positive Aspekte mit sich. Ein richtig guter Roman, bei dem die Sentimentalität gezielt eingesetzt wird und auch nach dem Lesen eine Sinnhaftigkeit bestehen bleibt. Ungewöhnliche, aber lesenswerte Umsetzung über das Trauern in all seinen Facetten.