Wo ist der Weg aus der Tiefseetrauer zurück ins Leben?

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elke seifried Avatar

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„Auch mir war das mit den elftausend Metern eigentlich zu abstrakt. Erst als ich selbst dort ankam, also ganz unten in der Dunkelheit, wo es kein Licht mehr gibt, keine Farben und kaum noch Sauerstoff, bekamen diese elf Kilometer und all diese Ziffern und Größenordnungen eine greifbare Qualität für mich – elftausend Meter unter Wasser sind gleichbedeutend mit einem Meter neunzig unter der Erde, der Tiefe deines Grabes.“

Zwischen Paula und ihrem kleinen Bruder Tim bestand ein ganz besonderes Band. Als er stirbt, stirbt auch ein Stück in ihr. Die Sehnsucht nach ihm, die Schuldgefühle, dass sie ihn nicht vor seinem Tod bewahren konnte, die sie sich grundlos einredet, lassen sie in ein tiefes Loch fallen. Zwei Jahre sind inzwischen vergangen und Paula kann noch immer nicht am Leben teilnehmen, die Ärztin erklärt, dass „meine Trauerreaktion mittlerweile pathologisch sei. Pathologisch ist etwas, wenn es krank macht. Kurz gesagt: Ich war ein bisschen falsch traurig, also ungesund traurig, so habe ich es damals zumindest aufgefasst, auch wenn das jetzt stark vereinfacht ist.“ Auch eine Psychotherapie kann ihr nicht helfen, redet sie doch dort, statt über ihre Trauer viel lieber über Klima, Tiefsee oder Lieblingspasta. „Die Krankenkasse hatte fünfundsiebzig Stunden bewilligt, so viele Nudelsorten kannte ich gar nicht. Über dich verlor ich aber erst einmal kein Wort.“

Schicksal oder Zufall? Eine Begegnung am Friedhof mit dem schrulligen, alten Helmut gibt ihrem Leben auf jeden Fall eine Wendung. Während Paula nachts ohne Zuschauer zum ersten Mal Tims Grab besuchen will, hat Helmut andere Pläne. »Quatsch, ich hole nur die Urne raus.<<. Da gilt, »Ich bin noch nicht ganz unten angekommen, ich bin dreiundachtzig Jahre alt, da buddelt es sich nicht mehr so einfach wie mit zwanzig.«, muss Paula spontan helfen. Einer Panne geschuldet wird mehr aus dieser komischen Begegnung und schon bald sitzen die beiden in einem Wohnmobil in Richtung Berge. Während für Helmut vor allem zählt, mit seiner Ilse noch einmal dort Urlaub zu machen, >>Ich hab ihr was versprochen und in Ihrer Generation ist das vielleicht anders, aber in meiner hält man gegebene Versprechen.«, weiß Paula zunächst gar nicht, warum sie sich auf die gemeinsame Reise eingelassen hat. Je mehr sie aber von dem verschlossenen Helmut, seinem Leben und seinem Umgang mit Trauer erfährt, desto mehr kann sie sich auch ihrer eigenen stellen.

Die Autorin lässt die Geschichte von Paula aus der Ich-Perspektive erzählen und macht so ihre Trauer mehr als eindrücklich erlebbar. Der Roman ist als eine Art Erzählung, Roman oder auch Brief an ihren toten Bruder verfasst. Ich war nicht nur einmal mehr als gerührt, das Verhältnis der beiden Geschwister muss wirklich ein ganz besonderes gewesen sein. Toll find ich, dass man als Leser obwohl die abgrundtiefe Trauer Paula nicht loslässt, ihr Alpträume beschert und sie im Moment so völlig aus dem Alltagsleben aushebelt, nicht in Trübsinn verfallen muss. Ein witziger Kommentar von Helmut, wie z.B., >>Herrje, sie sind ja eine richtige Heulboje<<, den er herzlich meint, konnten ja so lange keine erlösenden Tränen fließen, oder eine witzige Szene, wenn Huhn Lars, das unterwegs aufgegabelt wird, sein Geschäft auf seinem Sitz macht, lassen einen sofort wieder aus der erlebten Trauer auftauchen. Ich konnte nicht nur einmal richtig herzhaft lachen. Jasmin Schreiber hat sowohl mit Paulas Trauer, als auch mit Helmut und seinem Leben, von dem er ihr nach und nach erzählt, mehr als gelungen geschafft, mich mit ihrer Geschichte emotional völlig einzufangen. Die Autorin und auch ihre Paula sind Biologinnen, was den Schreibstil und auch die Handlung immer wieder beeinflusst. So werden in Rückblicken auf Fragen und Gespräche zwischen Tim und ihr ganz oft Themen wie Fische, Insekten, die Tiefsee oder ähnlich Biologisches aufs Tapet gebracht und auch der eine oder andere Vergleich entspringt dieser Vorliebe, die ich teile. „Da wird ein Lächeln, das nicht so recht passen will, schon mal als eine Palme im Wald beschrieben. Klar, „Palmen sind auch Bäume, jepp, nur gehört eine Palme da doch irgendwie nicht hin!“

Ausgesprochen gut haben mir auch die vielen weisen, tröstenden Worte von Helmut gefallen, „Die Welt wartet nicht auf einen, das tut sie nie, glauben Sie mir – aber sie läuft einem auch nicht davon. Das ist eine gute Sache, wissen Sie!“ oder wie gut, dass die Erde und der Alltag sich weiterdreht, >>Weil man irgendwann wieder in das Karussell einsteigen kann, wenn man bereit dazu ist.<<. Auch die Tatsache, dass der Tod sich nicht vorschreiben lässt, wann er kommt, und man daher ein Unglück wie das ihres Bruders auch nicht verhindern kann.

Helmut ist ein Unikum und ich habe den schrulligen, alten Mann sofort in mein Herz geschlossen. Wie ernst er seine Bemühungen, sich an sein Versprechen zu halten, seine Ilse, wenn auch in der Urne, noch einmal in die Berge bringen, haben mich mehr als gerührt. Er ist kauzig, spart nicht mit auf den ersten Blick bösen Kommentaren, meist verschlossen wie eine Auster, was einen als Leser natürlich neugierig macht, und nur ab und an in Plauderlaune. Dass er aber ein riesiges Herz hat, ist nicht zu verkennen. Mit seinen Marotten und Launen verleiht er der Geschichte unheimlich viel Leichtigkeit und Humor, durch das Schicksal, das das Leben für ihn vorgesehen hat, und seine Art aber auch äußerst viel Tiefgang. Auch Paula mochte ich von Anfang an super gern. Die Autorin hat die beiden wirklich toll gezeichnet. Erwähnen möchte ich auch noch Schäferhundmischling Judy, der mit Karotte im Maul rückwärts läuft, also ebenso seine Marotten hat wie sein Herrchen Helmut, aber auch ein sehr feines Gespür für die Stimmungen der beiden.

„Wäre Sehnsucht eine olympische Disziplin, ich hätte uns längst Gold geholt!“

Wäre Romanschreiben eine, wäre Jasmin Schreiber mit ihrem Marianengraben sicherlich auf einem Treppchen. Ein bewegend, einfühlsam geschriebene Geschichte, die Trauern und Lachen in einer wunderbaren Balance hält und mit besonderen und liebenswerten Darstellern punkten kann. Von mir gibt es da begeisterte fünf Sterne.