Ein Echo über das Leben - wenn es keine Antworten gibt
#danielakrien hat mit #MeinDrittesLeben erneut etwas geschaffen, das mich sehr, sehr, sehr be- und gerührt hat. Die Geschichte von Linda, die nach dem tragischen Unfalltod ihrer Tochter Sonja den Boden unter den Füßen verliert, hat mich in ihrer rohen und unverblümten Darstellung von Schmerz und Trauer umgehauen. Die Fähigkeit, Lindas innere Zerrissenheit zu schildern, machte es mir leicht, mich in etwas einzufühlen, auch wenn ich solch einen Verlust selbst nie erlebt habe. Ihr Rückzug aufs Land wirkt nicht wie ein klassischer Neuanfang, sondern wie ein verzweifelter Versuch, den erdrückenden Gefühlen zu entkommen, die sie in der Stadt umgeben; den Erinnerungen auszuweichen, die sie täglich emotional erschlagen würden, Menschen zu entgehen, die sich sorgen und denen man nicht erklären kann, dass man nichts mehr ist. Das einfach nichts mehr übrig ist. Jeder Tag wird zur Prüfung, jede Handlung zur Herausforderung, und doch vermittelt Krien subtil die Möglichkeit eines neuen Lebens, selbst wenn es ein anderes ist als das, das Linda sich jemals gewünscht hätte oder welches sich in unseren Köpfen auftut.
Besonders wirkend fand ich die Dynamik zwischen Linda und ihrem Mann Richard. Obwohl sie beide den gleichen Verlust erlitten haben, gehen sie so divergent damit um, dass es unausweichlich scheint, dass sie sich voneinander entfernen. Während Linda sich in ihrer Trauer verliert und die Nähe zu ihrem früheren Leben meidet, sucht Richard weiter nach Halt im Leben. Seine Versuche, Linda zu erreichen, werden von ihr mit Ablehnung beantwortet. Die Spannungen zwischen den beiden spiegeln die Frage wider, wie Menschen gemeinsam trauern können, wenn jeder eine andere Art der Bewältigung benötigt. Die Schilderungen dieses emotionalen Konflikts wirken zutiefst ehrlich, ungefiltert und für mich vollkommen nachvollziehbar, ohne dass es immens sentimental erscheint.
Auch die langsame, beinahe zähe Art, in der Lindas Leben quasi wieder in eine Art Gestalt annimmt (auf dem Hof, den sie gemietet hat), finde ich stark. Katatonisch ist der Zustand für lange Zeit. Doch sie arbeitet sich auf völlig andere Art, anders als ihr Leben bisher war, wieder „an ein Leben“ heran. Retrospektiv lesen wir über ihre Kindheit, ihre Mutter, Sonia, ihren Job, ein Leben mit Richard. Rückblenden auf ihr „altes“ Leben und eine völlig andere Linda. Es gibt keinen Moment der plötzlichen Heilung, keinen klaren Wendepunkt. Stattdessen zeigt Krien, wie Trauer ein ständiger Begleiter bleibt und Linda nach und nach lernt, damit zu leben, auch wenn der Schmerz nie ganz verschwinden wird. Das Buch strahlt trotz der tiefen Traurigkeit einen feinen Funken Hoffnung aus: Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie lässt sie verblassen und erlaubt es, dass das Leben (irgendwann) weitergeht – wenn auch in einer anderen Form.
Manche Kritikpunkte an der Geschichte, die ich gelesen habe, wie bspw. Lindas vermeintlich übertriebene moralische Handlungen, empfinde ich als nicht störend, da sie für mich wie ein Teil ihrer Selbstfindung wirken. Sie spendet Geld und unterstützt andere nicht aus moralischer Überlegenheit, sondern als Teil ihres Versuchs, Kontrolle über ein Leben zurückzugewinnen, das ihr vollständig entglitten ist. Ein weiterer Kritikpunkt, den einige nannten: sie wirkt unsympathisch und man konnte keine Beziehung zur Protagonistin aufbauen. Ist es denn, angesichts dieses Plots, wichtig, dass die Protagonistin, die das für sich schlimmste erlebt, nämlich, dass ihr Kind stirbt, sympathisch ist? Denn in diesem Fall tut es nichts für oder gegen die Geschichte, ob wir Leser*innen diese Figur sympathisch finden. Dies ist eine Kritik, die ich nicht nachvollziehen kann. Und ist es denn immer wichtig, dass Figuren sympathisch sind – was lerne ich denn aus gewissen Romanen, Schilderungen, Erzählungen, wenn immer alles so läuft, wie in meiner Denke, nichts. In welche Reflexion kann ich mich begeben, wenn die Figur in einem Buch alles tut wie ich es (vermeintlich) tun würde!?
Dieses Buch ist für mich eines der bewegendsten, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Die Feinfühligkeit im Ton, mit dem Krien den Umgang mit Trauer, Schuld und Verzweiflung beschreibt, hat mich wieder volle gekriegt. Mich hat das Buch u.a. auch so aufgewühlt, weil viele von Lindas Handlungen meine Gedankengänge treffen. Ich weiß, dass mein Papa irgendwann sterben wird. Das ist unumgänglich. Das ist in irgendeinen göttinnenverdammten Stein gemeißelt. Und wenn ich darüber nachdenke, dass dieser Tag X kommen wird, dann wird’s mir ganz eng um den Hals, mein Puls erhöht sich und die Brust wird mir extrem eng – dennoch kann ich mir vorstellen, dass ich eine Person wäre, oder auch bin, die den „Linda-Weg“ geht, weil ich keine Ahnung davon habe, wie dieser Verlust, dieser Schmerz, je wieder gut werden kann; wie dieses Gefühl in meinem Herzen jemals verschwindet. Aber jetzt habe ich zumindest eine Idee, die sich gut anfühlen könnte ….
Auch dieses Buch ist für mich eines, das wie ein Echo ist … es schreit ein Thema raus, und es hallt lange, mehrfach retour … es tut weh und es stellen sich so viele Fragen auf einmal, auf die es keine Antwort gibt – Antworten erst, wenn „es“ passiert ist.
#leseempfehlung von Herzen für ein #jahreshighlight!