Berührend und fesselnd

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scarletta Avatar

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In Rotterdam wächst die Jasmijn zusammen mit ihrem älteren Bruder Emiel behütet bei ihren Eltern auf.
Mit vier Jahren beginnt in den Niederlanden die Schulpflicht, doch für die kleine Jasmijn ist ihre fröhliche, bunte, laute Gruppe in der Vorschule ein Albtraum. Sie kann schon seit dem dritten Lebensjahr lesen und ist rasch intellektuell unterfordert. Keiner weiß, dass sie ihre Umwelt viel intensiver wahrnimmt. Der Lärm, das grelle Licht, die bunten Farben, die ständige Unruhe und das vermeintliche Chaos um sie herum sind für Jasmijn kaum zu ertragen. Am liebsten zieht sich Jasmijn zurück, um sich allein an einem ruhigen in ihre Bücher zu vertiefen.

Bald reagiert sie mit heftigen Migräneattacken, wenn die Eindrücke von außen sie zu stark überfordern.

„Wir alle hatten zwei Ohren und nur einen einzigen Mund, aber die Stimmen in der Schule schienen entschlossen, dieses schiefe Verhältnis gerade zu rücken. Rufe, Geschrei, schallendes Gelächter flogen durch den Raum, hallten von den Wänden wider, vibrierten in der Luft und schlugen mir ins Gesicht.“ (S. 262)

Ihre Lehrer und Mitschüler verstehen nicht, warum Jasmijns nicht antwortet. Denn sie redet nicht mit anderen Menschen, sondern nur mit den Eltern, dem älteren Bruder Emiel, einem Großelternpaar und der geliebten Hündin Senta, ihrer besten Freundin. Im Kontakt mit fremden Menschen verharren die Worte in ihrem Kopf und schaffen nicht den Weg hinaus.

Die Gefühle und die Mimik der anderen Menschen sind ihr ein Buch mit sieben Siegeln. Den gesellschaftlichen Erwartungen an sie kann sie nicht entsprechen.

Dass Jasmijn unter vom Asperger Syndrom, einer Form des Autismus, betroffen ist, wird sie erst im frühen Erwachsenenalter erfahren. Sie wächst in den 80er und 90er Jahren auf, in denen noch wenig über Formen des Autismus bekannt ist.

Ihre Eltern erklären ihr Verhalten damit, dass „sie nun einfach so ist…“ und die Migräne liege halt in der Familie. Problemen entziehen sie sich schnell.

„'Ach, so schlimm wird’s schon nicht werden.' … Wenn man an etwas nicht dachte, dann existierte es nicht.“ S. 525

Auch keine der Schulen hakt nach. Man lässt ihr große Freiräume, sucht aber nicht nach Ursachen oder Hilfestellungen.
Schon kleine Probleme können Jasmijn aus der Bahn werfen, wie das geliebte Pony im Reitstall, das plötzlich einmal nicht wie gewohnt in seiner Box auf sie wartet.

„Und wenn Erwartung und Realität kollidierten, war der Schlag zu heftig, dann riss etwas in meinem Gehirn. Ich musste selbst bestimmen können, wie die Dinge abliefen und wann sie sich veränderten, damit ich wusste, woran ich war.“ S. 120

Jasmijn will immer die Fäden in der Hand behalten, keine Veränderung im Muster, weil sonst „alle Fäden , die sie in der Hand hat, reißen würden“ S. 440
In ihrem Tagebuch jedoch träumt Jasmijn sich als die „normale Jasmijn“: kontaktfreudig und beliebt, der die Welt offen steht. Doch die „richtige Jasmijn“ schafft meist nicht das, was die „normale Jasmijn“ kann.

Ihre ganze Liebe schenkt sie ihrer Hündin Senta und irgendwann Elvis Presley auf dem Poster in ihrem Zimmer. Sie hören zu und erwarten weder Antworten noch ein besonderes Verhalten.

Im Laufe der Jahre entwickelt Jasmijin Möglichkeiten und Strategien, um sich selber zu schützen. Allerdings isolieren ihre Lösungen sie sozial noch mehr. Nur einer Mitschülerin gelingt es mit viel persönlichem Engagement und liebevollem Einfühlungsvermögen eine freundschaftliches Verhältnis zu ihr aufzubauen.

Mein Fazit
Jasmijn Vink, J.V., das sind auch die Initialen der Autor Judith Visser, der es gelingt, einen wunderbar berührenden autobiographischen Roman zu schreiben. Als LeserIn erlebt man hautnah wie Jasmijns denkt, fühlt und handelt, und sieht mit ihren Augen die Reaktionen ihres Umfelds.

Für mich wurde so eindrücklich klar, wie ein Mensch mit Asperger Syndrom seine Umwelt wahrnimmt. Die Überforderungen z.B. durch Geräusche, Licht, Farben, Menschen, sind sehr bildhaft geschildert.

Jasmijns Geschichte und ihre Entwicklung, in der sie immer mutiger wird, um sich in die Welt hinein zu wagen, ist ungemein spannend. Neugierig habe ich ihre Entwicklungsschritte verfolgt, die immer authentisch wirken.

Sehr bewegt hat mich das Engagement von Jasmijns Freundin Kirstin, die sich mühevoll ihr Vertrauen erarbeitet. Jeder Schritt in eine kleine Selbstständigkeit ist auch für den Leser eine große Freude, denn rasch fiebert man mit der liebenswerten Protagonistin mit.

Die Erzählweise empfand ich als ungemein fesselnd, so dass ich das Buch schier verschlungen habe.