Welches Kind ist schon normal...

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leserattenmama Avatar

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... heutzutage gibt ja gefühlt fast kein Schulkind mehr ohne Diagnose wie ADHS, ADS, Legasthenie, Dyskalkulie, muss zur Logopädie, Physiotherapie, Psychotherapie etc; aber vor einigen Jahren sah das ja noch anders aus. Nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch im Nachbarland, den Niederlanden, wo Jasmijn im Januar 1978 geboren wird. Ein Sonntagskind, das gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Emiel und den Eltern aufwächst und mit zwei Jahren die Hündin Senta bekommt, die schnell für sie zum wichtigsten Bezugspunkt wird. Menschen sind ihr oft zu laut, Gespräche strengen Jasmijn an, da sie zB keine Ironie versteht und alles wörtlich nimmt und Nebengeräusche wie Radio oder TV nicht ausblenden kann. Schon als Vorschulkind mit 4Jahren fällt sie dadurch auf; fremden Menschen (zB der Lehrerin...) antwortet sie nicht und findet keinen Anschluss an die Mitschüler.
Ihr Anderssein, wie dass sie sich gern abkapselt, es ihr schnell zu laut und zu hell wird, wird einfach von Eltern und Lehrern hingenommen. Heute unvorstellbar... aus Jasmijns Perspektive erzählt jedoch sehr gut, absolut logisch und leicht nachspürbar geschrieben.
Sätze in einer so einprägsam bildlichen Sprache wie „Warm und weich wie dicht behaarte Tierhaut; so musste Fell klingen, wenn es Klang wäre“ oder „In meinem Kopf wurde es hell vor Erleichterung“ tragen absolut zum Lesegenuss bei. Es gibt Höhen und Tiefen; Szenen zum Lachen, aber auch zum Weinen; zum Schmunzeln und trocken Schlucken.

Unterteilt ist die autobiographische Geschichte in 134 Kapitel, was bedeutet, das einige sehr kurz sind - manchmal hätte ich mir mehr Informationen zu bestimmten Szenen gewünscht. Auch der Sprung zwischen dem letzten Kapitel mit 18Jahren, also 1996, und 1999 fand ich persönlich schade - gerade in diesem Zeitraum passierte noch mal viel bei Jasmijn, was sicher nicht leicht war für sie als (noch nicht diagnostizierte) Asperger-Autistin. Die Jahre von der Vorschule mit 4 Jahren bis zum Ende der Schulpflicht mit 18Jahren werden jedoch insgesamt ausführlich beschrieben. Jasmijn wird im Buch also erwachsen - aber sie trinkt auch als Jugendliche nach Möglichkeit nur mit Strohhalm, um nichts zu verschütten; ihre Mutter markiert Schuhe mit L und R; bei Familienbesuchen bleibt sie konsequent auch während der Mahlzeiten im Zimmer etc. So manches mal fragt man sich, wenn man wie eingangs geschrieben die heutige, alltägliche Diagnosevielfalt vor Augen hat, wie das alles mit einem lapidaren „so ist sie nun mal“ durchgehen konnte. Das scheint mir irgendwie so unwahrscheinlich, dass es mir die sonst so realitätsnahe Geschichte dann doch fiktiver wirken lässt als es sich für ein autobiographisches Buch gehört...

Dennoch: Für mich ein sehr lehrreicher, 608 Seiten langer Ausflug in das Leben eines ganz besonderen Sonntagskindes, den ich jedem ans Herz legen kann - auch denen, die Elvis oder Hunde nicht mögen ;)