Berührender Brief

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lesemöwe Avatar

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Eine Freundin erfährt, dass ihre amerikanische Freundin Molly nach einem geplatzten Aneurysma im Koma liegt.Sie selbst lebt in Paris und als sie von dem Schicksal ihrer Freundin hört, beginnt sie ein stummes Zwiegespräch mit ihr, indem sie ihr am Computer alles schreibt, was ihr durch den Kopf geht, assoziativ, sprunghaft, voller Fragen - ohne dies jedoch abzuschicken.

Sprunghaft und assoziativ ist auch die Sprache, denn die einzelnen Abschnitte scheinen nicht logisch aufeinander aufzubauen, da der Ich-Erzählerin ganz unterschiedliche Dinge durch den Kopf gehen. Sie stellt Fragen, viele Fragen hintereinander, Fragen, auf die es oft keine Antwort gibt, weil es so unfassbar für die Freundin ist, was mit Molly passiert ist. Aber Stück für Stück erschließt sich dem Leser ein Bild von Molly, ein Bild, wie sie war, bevor sie ins Koma fiel. Außerdem wird der Schmerz der Ich-Erzählerin über den Verlust ihrer Freundin sowie ihr dringender Wunsch, etwas dafür zu tun, dass die Freundin wieder aus dem Koma erwacht, deutlich: "Gibt es eine geheime Formel, die dein Koma durchbrechen, den Zauber lösen kann, Molly?".

Letztendlich wacht Molly eines Tages wieder auf - aber fortan ist sie nicht mehr diejenige, die sie einmal war. Und die Erzählerin, die sich Mühe gibt, zu ihr vorzudringen, merkt, dass sie nicht mehr die Molly ist, die sie einmal war, da sie nicht mehr anknüpfen kann an das Leben vorher. "Mit all meiner Kraft habe ich gewollt, dass unsere Freundschaft unbeeinträchtigt bleibt" (Seite 152). Dies ist einer der letzten Sätze des Romans und was er genau sagt, soll hier noch nicht vorweggenommen werden.
Er steht aber für die Ehrlichkeit der Erzählerin, mit der sie den Prozess begleitet, und diese Ehrlichkeit ist es auch, der einen in dem Monolog berührt.

Auf dem Klappentext des Romans werden der Nouvel Observateur "Eine wunderschöne, melancholische Ballade" und Télé 7 jours, "ein ergreifender Roman über den Preis echter Freundschaft" zitiert: Die Adjektive "wunderschön", "melancholisch", "ergreifend", "echt" charakterisieren den Roman sehr gut, was an der Sprache der Erzählerin liegt. Durch viele Wiederholungen, rhetorische Fragen, Umgangssprache, Witz und Metaphorik bewirkt sie, dass man den Prozess ihrer Freundschaft miterlebt und sich selbst Gedanken macht- wie zum Beispiel an der Stelle, als sie Mollys Koma metaphorisch mit einem Aufenthalt auf dem Planeten Komma bezeichnet: "Du warst von der Welt abgeschnitten. Gelandet auf dem Planeten Komma. In dieser unbekannten Welt, die niemand betreten will und die du jetzt ganz allein erkunden musst. (...) Gibt es da, wo du dich gerade aufhältst, Klänge und Farben? Überwältigende Landschaften? Ist es eine karge Wüste? Ein Schwindelgefühl, ein schwarzes Loch? Eine harte Nacht? Ein langer Albtraum? Du leidest nicht. Das versichern die Ärzte. Aber wer kann sich da schon sicher sein? Woher soll man wissen, was du fühlst? (Seite 19).

"Meine amerikanische Freundin" - ein berührender, leiser Roman, den ich nur weiterempfehlen kann.