Zwiegespaltener Leseeindruck

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Seit vier Jahren haben sich Alice und Hanna nicht mehr gesehen, denn nach einem schweren Vertrauensbruch floh Hanna nach Kuala Lumpur und verweigerte ihrer Familie jeglichen Kontakt. Alice und Hanna: zwei Zwillingsschwestern, die gegensätzlicher nicht sein könnten; zwei Pole, die sich abstoßen und anziehen. Alice ist harmoniebedürftig, verständnisvoll, überlegt, schüchtern, die ewige Außenseiterin, ein „Mutterkind“; Hanna dagegen impulsiv, extrovertiert, selbstbewusst, beliebt, rebellisch, polarisierend. Was die beiden Schwestern eint? Eine Kindheit mit einer domi-nanten, bedürftigen und besitzergreifenden Mutter, die den erstgeborenen Bruder Michael über-höht und ihre eigenen erlittenen Traumata nicht verarbeitet hat. Eine Kindheit mit einem abwesenden Vater, der die Familie schließlich für eine andere Frau verlässt. Darüber liegt der transgenerati-onale Schatten psychischer Erkrankungen; davon in unterschiedlichem Ausmaß betroffen: Mutter Celia, Hanna und Tante Katy. Anlässlich der Beerdigung ebendieser Tante treffen die Familienmitglieder nach langer Zeit wieder aufeinander. Es ist der tragikomische Auftakt einer langsamen
Wiederannäherung, der Aufarbeitung der familiären Vergangenheit, der „Heilung“, Versöhnung und Transformation.

Ich habe ziemlich lange für „Meine bessere Schwester“ gebraucht, was einer kurzweiligen „Lesekrise“ geschuldet war und daher ist mein abschließender Eindruck möglicherweise etwas verzerrt. Ich bin nämlich zwiegespalten. Einerseits ist der Roman nah an seinen Figuren, lässt auf verschiedenen Zeitebenen sowie aus unterschiedlichen Perspektiven tief in die Geschichte dieser äußerst dysfunktionalen Familie blicken und entfaltet peu à peu die Hintergründe, Ursachen und daraus resultierenden Dynamiken. Dabei verhandelt dieses literarische Psychogramm ernsthafte Themen wie Mobbing, familiäre Entfremdung, fehlende Elternliebe, mütterliche Toxizität und die Weitergabe psychischer Erkrankungen. Dennoch vermisste ich in Bezug auf diese Aspekte auch gleichzeitig etwas die Tiefgründigkeit.
In Bezug auf die Sprache: nach den ersten 40 Seiten glaubte ich ein Highlight in Händen zu halten – trotz des traurigen Anlasses grandios humoristisch, scharfzüngig und bissig geschrieben. Mochte ich sehr! Doch gerade diesen sprachlichen „Anfangsdrive“ konnte Rebecca Wait aus meiner Sicht leider nicht halten bzw. ließ sie ihn vor allem in Nebenschauplätzen aufblitzen. Dadurch fühlte ich mich, das muss ich leider so sagen, sprachlich zunehmend etwas „unterfordert“ und der Roman wurde etwas langatmig.
Wie gesagt: es mag an dem schwierigen Lesezeitpunkt liegen oder daran, dass ich den oben genannten Themen in literarischer Sicht doch aktuell etwas überdrüssig bin. Das entscheidende Fünkchen zum absoluten Leseglück hat mir jedenfalls gefehlt. Fazit: nicht ungern gelesen, aber eben leider kein Highlight.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer.