Der Beginn einer neapolitanischen Tetralogie!

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Es gab wohl kaum ein Buch über das auf dem Buchmarkt mehr geschrieben und gesprochen wurde in diesem Jahr (2016) als Elena Ferrantes „Meine Geniale Freundin“. Zum einen lag das sicherlich an der Anonymität der Autorin und dem unglaublichen weltweiten Erfolg, den diese neapolitanische Saga hat. Die deutschen Kritiker haben es entweder hochgelobt oder zerrissen, scheinbar ein Roman den man liebt oder hasst. Diese doch sehr unterschiedlichen Kritikerstimmen fand ich spannend und wollte nun auch wissen was es mit dem Werk auf sich hat.
Im Grunde ist es eine simple Mädchenfreunschaftsgeschichte. Elena und Lila wachsen in einem Arbeiterviertel in Neapel auf, der Roman spiel in den 50er/60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Grunde wird erzählt wie die beiden miteinander und nebeneinander aufwachsen und das auf über 400 Seiten aus Sicht von Elena. Diese Zusammenfassung mag sich dröge und langweilig anhören, aber genau darin liegt der Reiz des Romans, dass Elena Ferrante es schafft die vielen Charaktere des Viertels vielschichtige zu beschreiben, ihre Interaktion und ihr Leben eingebettet in eine ärmliche Szenerie.
Man lernt nicht nur Elena und Lila kennen und was sie verbindet, man lernt auch das Leben des Viertels, seine ungeschrieben Gesetzte und die ungebildeten Sichtweisen der einfachen Arbeiter kennen. Und das sehr überzeugend. Die beiden Mädchen verbindet zunächst der Wissensdurst: „...etwas zu verstehen, gefiel uns ungemein." (S. 212) und dann kommt der Traum des Entfliehens für beide hinzu, beide wollen aus der Armut, aus der täglichen Brutalität entfliehen. Natürlich ist das auch mit Widerstand und Scheitern verbunden.
Da das Figurenkabinett in diesem Roman sehr umfangreich ist, gibt es, zu meinem Glück (!), ein umfangreiches Personenverzeichnis zu Beginn des Romans. Selbst auf den letzten 100 Seiten brauchte ich dieses Register um Verwirrungen aufzulösen.
Sprachlich fein nuanciert und wunderbar übersetzt von Karin Krieger. Dieser Roman besteht hauptsächlich aus der reflektieren Gedankenwelt von Elena, die sich an ihre Kinder- und Jugendtage erinnert. Nur selten taucht ein Dialog auf. Sonst bin ich kein Fan von solchen langen Texten ohne vordergründiger Interaktion, aber hier genau richtig! Dieses melancholische, reflektierte, sezierende der Sprache ginge gar nicht ohne diese monologartigen Längen des Textes.
Elena, die Ich-Erzählerin und Protagonistin des Romans, analysiert ihr Umfeld und das Geschehen um sie herum in jeder Einzelheit, wie auf Seite 281: „Nino trägt, genauso wie Lila, etwas in sich, das ihn auffrisst, es ist eine Gabe und ein Schmerz zugleich. Die beiden sind unzufrieden, geben sich nicht auf, fürchten das, was um sie her geschieht.“
Dem ersten Band der Reihe „Meine Geniale Freundin“ werden 3 weitere Bände folgen. Ich bin gespannt wie das Epos weiter geht. Beim Lesen fühlte sich in dem Detailgrad des alltäglichen was hier verbildlicht wird, auch zum Teil an wie eine Fernseh-Serie. Und wie man zu lesen bekommt, ist die Verfilmung im Gange.
Fazit: Sicherlich nicht für alle etwas. Wer eine leichte Lektüre und mehr nach „Entertainment“ sucht ist hier nicht gut bedient. Aber alle Freunde der langsamen Literatur, der sezierenden Blicke, erschließt sich hier ein großartiges Territorium.