Beeindruckender Stil - bedrückender Inhalt

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Das Buch fängt mit einem Hammerschlag an: "Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setze, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, was auch der Tag, an dem der Milchmann starb" (S. 7).

Da das Buch als Rückblick geschrieben ist, weiß man schnell, dass die Erzählerin überlebt hat. Und man weiß, dass der Milchmann stirbt.

In diesem fulminanten Einstieg zeigt sich auch schon der Stil des Buches: Es wird in Rückblenden erzählt. Und es gibt keine Namen. Zumindest keine richtigen. Denn Namen sind ein schwieriges Thema, viele Namen sind verboten. "Es war gemeinschaftliche Überlieferung, die bestimmte, welche Namen erlaubt waren und welche nicht" (S. 34). Daher heißen alle in diesem Buch nach ihrer Funktion. Die Erzählerin ist "Mittlere Schwester", dazu gibt es "Schwager Drei". Und es gibt den Milchmann. Der aber wohl kein echter Milchmann ist. Sondern eine wichtige - aber wohl umstrittene - Person im undurchsichtigen Geflecht der schwierigen politischen Situation.

Die Autorin stammt aus Nordirland. Daher ist davon auszugehen, dass sie die dortige politische Situation ungefähr aus den 70er Jahren schildert. Allerdings wird dies nicht benannt. Und ich persönlich denke, dass dieses Buch auch stellvertretend für alle anderen Bürgerkriegsähnlichen Geschehnisse auf der Welt stehen kann. Für alle Konflikte, die zwischen radikalen oder sich fast zwangsläufig radikalisierenden Parteien ausgetragen werden.

Radikal sind auch die Lebensverhältnisse der Protagonistin. Sie ist 16 - und noch nicht verheiratet - was zu Kritik führt. Vorgesehen ist für sie ein Leben als Hausfrau und Mutter. Immer schön brav, immer im Sinne der Gesellschaft, der sie angehört. Und ja nicht, wie die Gesellschaft "auf der anderen Seite der See" (was auf den Konflikt zwischen Nordirland und Großbritannien hinweist). Die Protagonistin versucht, sich diesen Zwängen zu entziehen, in dem sie im Gehen liest. Immer Literatur aus vergangenen Jahrhunderten. Nie aktuelle Literatur. Außerdem treibt die Protagonistin extrem viel Sport (Laufen) und versucht, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Dies gelingt ihr jedoch nicht mehr, als der sogenannte Milchmann beginnt, sich für sie zu interessieren. Zwar ist er viel älter als sie, verheiratet. Und sie hat keinerlei Interesse an ihm. Aber das interessiert nicht. Ihn nicht - und die Gesellschaft nicht. Sie wird verdächtigt, ein Verhältnis mit ihm zu haben. Obwohl sie das sicherlich nicht will. Und alles tut, um die Gerüchte zu unterbinden. Aber es klappt nicht. Und so gerät alles in eine ungute Spirale. Weil die Gesellschaft so rigide ist. Für Individualismus ist kein Platz. Und für richtige Beziehungen auch nicht. Deshalb hat die Protagonistin auch nur einen sogenannten "Vielleicht-Freund". Denn beide wollen sich nicht den Normen der Gesellschaft unterwerfen. Obwohl sie - aus heutiger Sicht - eine ziemlich normale Beziehung für zwei Jugendliche führen.

Stilistisch ist das Buch interessant, innovativ und sehr bemerkenswert. Nicht umsonst hat das Buch den Man-Booker-Preis gewonnen. Für mich persönlich war es aber kein absolutes Lese-Highlight. Das lag sicherlich zum einen daran, dass ich in der aktuellen Lage (Corona) nur schwer sehr bedrückende Literatur lesen kann. Es lag auch daran, dass die Protagonisten und die Handlung mir als Leserin kaum nahe kamen. Es gibt immer eine gewisse Distanz. Was auch an der Namenlosigkeit liegen kann. Aber sicher auch daran, dass so viel erzählt wird, so viele Gedankengänge geschildert werden. Aber so recht wenig Handlung, zumindest keine stringente Handlung. Sondern ein hin- und her zwischen den Zeiten und den Themen.

Sicher ein stilistisch beeindruckender Roman. Für mich persönlich aufgrund der aktuellen Situation jedoch zu bedrückend.