Botschaft statt Handlung

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tochteralice Avatar

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Ja, diese Iren: offenbar gehört es zu ihrer Eigenart, in Romanen viel mitzuteilen, ohne dass sonderlich viel gehandelt wird. Ich denke da an Joyce's 1922 erschienenen großen Roman "Ulysses", in dem ein Tag im Leben des Protagonisten auf rund tausend Seiten erzählt wird.

Im fast hundert Jahre später erschienenen Roman "Milchmann" von Anna Burns offenbart sich dem Leser das Innenleben einer jungen Frau. Einer sehr jungen, nämlich achtzehn Jahre alten Frau, die nach dem Willen ihrer Mutter gleichwohl schon längst hätte verheiratet sein müssen.

Sie selbst ist nicht dieser Ansicht, weiß sie doch selbst noch gar nicht so genau, wer sie ist und was sie will. Sie spürt nur, dass sie zu so einigem gedrängt wird, das sie gar nicht will. Vor allem durch den Milchmann, einen um einiges älteren Mann, der ihr immer wieder auflauert. Ein Stalker, würden wir sagen. Und nur einer der Faktoren, die die junge Frau daran hindern, ihr eigenes Leben zu leben.

Auch wenn es keine Namen gibt in diesem Roman - weder für Menschen noch für Orte - wird bald deutlich, dass die Handlung in Nordirland, allem Anschein nach in Belfast stattfindet. Auch auf England wird immer wieder Bezug genommen, gleichsam aus einer sehr großen Distanz heraus.

Nicht nur die junge Protagonistin lebt unter einem großen Druck, insgesamt ist die Situation der Menschen im Roman keine freie. Männer haben wesentlich mehr zu sagen als Frauen, aber auch sie können nicht immer, wie sie wollen. Und vieles wird durch Klatsch festgelegt - aus Dahergesagtem wird plötzlich eine Wahrheit, die auszumerzen fast nicht möglich ist.

Ein Roman, der nicht nur düster daherkommt, doch muss man den zweifellos ungewöhnlichen Humor der Autorin zu nehmen wissen. Und insgesamt einiges an Geduld aufbringen für die Lektüre. Denn immer wieder entstehen gleiche oder ähnliche Situationen, in denen gleiches oder ähnliches gesagt, gleich oder ähnlich gehandelt wird. Keine leichte Kost. Aber wenn man sich darauf einlässt, wird man mit der Bekanntschaft mit solch ebenso bezaubernden wie ungewöhnlichen Charakteren wie den kleinen Schwestern der Protagonistin belohnt. Und mit einer ungewöhnlichen, kraftvollen Sprache. Für diese Lektüre braucht man Mut, denn man lernt nicht nur einen neuen Roman kennen, sondern auch seine eigene Ausdauer!