Freund-Feind-Denken als Grundübel moderner Gesellschaften

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
buchdoktor Avatar

Von

„Milchmann“ wird ein hohes Tier einer paramilitärischen Truppe genannt, der eines Tages einem 18-jährigen Mädchen nachzustellen beginnt. Er ist nicht etwa „der Milchmann“, der mit einem weißen Lieferwagen die Milch ausliefert, sondern ein Kerl, der Frauen grundsätzlich als seinen persönlichen Besitz betrachtet. Wie alle Figuren des Romans bekommt er seinen Spitznamen als Etikett angeheftet, das Anonymität schafft, seine Taten verharmlost, aber auch Möglichkeiten schafft, über das Unvorstellbare überhaupt zu sprechen. Er scheint genauestens zu wissen, was das Mädchen wann und wo tut, Widerstand scheint von Beginn seiner Anmache an sinnlos zu sein. Beängstigend wirkt allerdings, dass die Mutter ihrer Tochter ungefragt die Schuld an dem Vorfall zuschiebt und zugleich klarstellt, dass auf ihre Hilfe nicht zu zählen ist. Die sexuelle Belästigung wird verharmlost, nein, von nun an wird über ihren Lebenswandel getratscht und dem Opfer die Schuld zugeschoben. Sie, die beim Spazierengehen in einem Buch liest, hat ihrem verdächtigen Verhalten die Krone aufgesetzt, indem sie sich leichtfertig von Milchmann ansprechen ließ.

Die Icherzählerin bleibt namenlos, ihre Schwestern und Schwäger werden nummeriert, der „Vielleicht-Freund“ erklärt sich selbst und ein weiterer ekliger Typ wird „Irgendwer McIrgendwas“ genannt, auch er eine Bedrohung, der eine Frau nicht entgehen kann. Ausschweifend ohne Punkt und Komma und mit extrem wenigen Absätzen scheint die 18-Jährige sich durch ihr Erzählen von einer dystopischen Welt zu befreien, in der willkürlich zwischen „uns“ und „den anderen“ eine Grenze gezogen wurde. Die Unterscheidung kann zwischen Religionen verlaufen, zwischen Männern und Frauen, besonders auch zwischen hetero- und angeblich homosexuellen Männern. „Wir“ sind die Verweigerer, die den Staat und seine Institutionen nicht anerkennen und mit Bombenanschlägen bekämpfen. Teil des militärischen Konflikts sind unübersehbar das archaische Männer- und Frauenbild, das sich um keinen Millimeter bewegen darf, und das passive Erleiden des Konflikts durch die Frauen. Man könnte auch die Sprache als Werkzeug zur Beschönigung nennen; denn auf Teufel-komm-raus wird verharmlost, indem der Bürgerkrieg „Probleme“(troubles) genannt wird. Eindringlich zeigt die Autorin, wie Bespitzelung, Klatsch und Rufmord unverzichtbarer Bestandteil von Diktaturen und totalitären Gemeinschaften sind. Auch in anderen Ländern und Kulturen, nicht allein in Irland. Der Moment, in dem das anfängliche Nord-Irland-Thema aus meiner Sicht umschlägt in die Darstellung gesellschaftlicher Spaltung generell und jeder Art, gelingt Burns ausgesprochen spannend.

Von der ersten Seite an wirkt Anna Burns Verarbeitung des Nord-Irland-Konflikts (1969-1998) feministisch pur und kämpferisch. Ihre Icherzählerin zeigt sich als genaue, kritische und sprachgewandte Beobachterin. Logisch, dass eine Person nicht erwünscht sein kann, die sich nicht mit dem Platz zufrieden gibt, der ihr als Frau (u. a. von anderen Frauen) zugestanden wird und die ihren Mitmenschen mithilfe der eigenen Exzentrik deren Widersprüche und Lebenslügen aufzeigt. Bisher gibt es Witwen, deren Männer „für die Sache“ starben, Verweigerer-Groupies und Mitläuferinnen. Was würde passieren, wenn Frauen ihren Männern ankündigen, sie hätten zukünftig zuhause zu bleiben und sich um ihre 8 Kinder zu kümmern, statt Bomben zu legen - und wenn sie die im Garten vergrabenen Waffen nicht mehr dulden würden? Das Freund-Feind-Denken als Grundübel unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird von der jungen Icherzählerin gekonnt entblättert. Zugegeben, sie erzählt ausschweifend und ihre Sicht auf die Dinge ist ungewöhnlich – aber ich habe mich mit ihr keine Minute gelangweilt.