Herausfordernd und eigenwillig, aber großartig!

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„… Gerücht ist eine Pfeife, die Argwohn, Eifersucht, Vermutung bläst, und von so leichtem Griffe, daß sogar das Ungeheuer mit zahllosen Köpfen, die immer streit'ge, wandelbare Menge, drauf spielen kann.“ William Shakespeare

Manch kluger Kopf von früher hat so weise Worte gesprochen oder verfasst, dass unsereiner heute auf einen riesigen Fundus dieser Gedanken zurückgreifen kann – dem Internet sei Dank :-).

So ein Gerücht wird der namenlosen Ich-Erzählerin in Anna Burns´ mit dem Man Booker Prize 2018 ausgezeichneten Roman „Milchmann“ (beinahe) zum Verhängnis. Beinahe deshalb, weil die Leser*innen schon auf der ersten Seite erfahren, dass der Milchmann erschossen wird. Bis es soweit ist, hat die geneigte Leserschaft gut 400 Seiten hinter sich. Und die haben es (nicht nur thematisch) in sich!

„Milchmann“ fordert seine Leser*innen heraus, schenkt ihnen nichts, zeigt kein Mitleid – und genau daran mag der ein oder die Andere scheitern, sich mit Grausen abwenden und dem Buch eine schlechte bis mittelmäßige Note geben.
Ich gebe gerne zu, dass ich am Anfang mit der Schreibweise, den Bandwurmsätzen, den „von Höxchen auf Stöckchen“ kommenden Gedanken, den namenlosen Personen und Orten der Erzählerin auch Schwierigkeiten hatte und das Buch schon beinahe in der Ecke gelandet wäre. Wie gut, dass es dann eine überragende Leserunde zu dem Roman gab, in der ich meine Meinung bereits nach dem ersten Leseabschnitt revidieren musste und – wie sich jetzt herausstellt – es auch nicht bereut habe.

Vor dem Hintergrund des (zwar nie wirklich explizit genannten, aber anhand von Umschreibungen der Autorin verorteten) Konfliktes in Nordirland spinnt Anna Burns ein Geflecht aus rückblickenden Gedanken der Ich-Erzählerin über die Zeit, als der „Milchmann“ ihr nachstellte und (ausgelöst durch ein Gerücht) die entstandenen Spannungen in der Gemeinschaft oder in ihrem privaten Umfeld. Letztlich sind die Themen wie Stalking, Mobbing, (religiöse) Konflikte oder die Suche nach dem oder der richtigen Partner*in universell und zeitlos. Trotzdem braut die Autorin hier ein (teilweise) irrwitziges, teils beklemmendes Gebräu, dass einen intensiven Geschmack hinterlässt (sofern die geneigte Leserschaft gewillt ist, die Geschmacksnerven mit dem Gebräu zu konfrontieren).

Neben all der im Buch genannten Schwermut, der (psychischen) Gewalt, der (scheinbar) ausweglosen Situation, fehlt etwas Entscheidendes dennoch nicht: die Hoffnung auf (positive) Veränderung (hier brillant dargestellt an einer von der Protagonistin besuchten Französisch-Stunde - nach der Lektüre dieses Abschnittes sollte die geneigte Leserschaft sich noch einmal das Cover genauer anschauen *g*) und von Bitterkeit getränkter schwarzer Humor und Sarkasmus – die Übersetzung dieses Romans war bestimmt nicht leicht…Wer also gerne etwas Neues ausprobiert, ist mit „Milchmann“ bestens bedient.

Für mich ein verdienter Preisträgerroman und ein weiteres „Crown Jewel“ 2020! 5*

©kingofmusic