Milchmann

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"Und erst da erkannte ich, wie sehr ich mich eingeigelt hatte, wie sehr ich mich von diesem Mann in ein sorgfältig konstruiertes Nichts hatte navigieren lassen. Genauso von der Gemeinschaft, vom geistigen Klima, von den vielen kleinen Übergriffigkeiten." (86%)

Die Ich-Erzählerin ist 18 Jahre jung, als ihr ein deutlich älterer Mann nachstellt. Aus dem Nichts taucht er plötzlich neben ihr auf und gibt ihr mit wenigen Worten zu verstehen, dass er sie schon länger beobachtet, alles über sie weiß (sogar ihre Gedanken scheint er zu erahnen) und dass er sie begehrt. Es kommt zu zwei weiteren Situationen, in denen er ihr in aller Öffentlichkeit auflauert, subtile Bedrohungen ausspricht und sie zutiefst beunruhigt.

Er ist auch kein unbekannter Mann. Er ist Milchmann, „ein hohes Tier“. Von den einen gehasst, von den anderen verehrt. Die kleinen öffentlichen Situationen reichen, um Gerüchte in Gang zu setzen, die der Protagonistin den Boden unter den Füßen wegreißen. Denn sie lebt in einer Zeit größter Unruhen. Jeder ist gegen jeden. Alles und jeder wird beobachtet. Ein falsches Wort, eine falsche Geste oder eine falsche Gefühlsregung und es kann gefährlich werden.

Es werden im Buch keine Schauplätze genannt, auch keine Namen oder andere direkte Hinweise. (Ein paar Filme, Bücher und reale Schauspieler werden benannt.) Man kann das Buch in den Nordirlandkonflikt verorten. Muss man aber nicht. Man kann es auch ganz losgelöst von werkübergreifenden Interpretationsansätzen lesen und sich von der Geschichte in einen Sog ziehen lassen.

Die Ich-Erzählerin erzählt mit einigen Jahren Abstand von dieser Zeit und den Ereignissen um den Milchmann. Lange Kapitel, verschachtelte Gedankenströme, überspitzte und stilisierte Figuren sowie die bewusst fehlenden Namen sorgen für einen besonderen Stil. Man kann sich von der Erzählung und dem atemlosen Erzähltempo tragen lassen. Dadurch empfindet man noch viel deutlicher die Gefahr und Bedrängnis, die vom ersten Satz an über der Geschichte schwebt.

„Milchmann“ ist mit keinem anderen Buch vergleichbar. Die Erzählweise ist neu, anders und genial. Wenn man sich darauf einlässt, wird man völlig davon gepackt. Die Story selbst um die Gerüchteküche, die Milchmann entfacht, und um das Seelenleben der Protagonistin, das dadurch komplett auf den Kopf gestellt wird, ist ebenso gut.

Es ist schwer, dieses Buch zu rezensieren. Man muss es wohl selbst gelesen haben, um eine Idee davon zu bekommen, was für ein Meisterwerk Anna Burns mit „Milchmann“ geschaffen hat.