Stream of Consciousness

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"Was, wenn nur eine Person zurechnungsfähig wäre, Älteste Freundin, vor einem Hintergrund, einem Kollektivbewusstsein, das nicht zurechnungsfähig ist, dann würde diese Person doch wahrscheinlich von der Masse als verrückt angesehen werden - aber wäre diese Person dann wirklich verrückt?"

Böse Gerüchte machen über die junge Erzählerin ihren Umlauf: Sie hat angeblich eine Affäre mit einem der berüchtigsten Verweigerer - dem Milchmann. Und aus Gerüchten werden in der konfliktgebeutelten Stadt ganz schnell Tatsachen. Die junge Frau versucht, inmitten dieses wahnwitzigen Sumpfs ihren eigenen Weg zu finden und sich gegen das Gerede zu behaupten.

"Milchmann" ist kein Buch, das sich leicht rezensieren lässt. Die Meinungen gehen bereits stark auseinander, und ein unbeeinflusstes Lesen ist deshalb kaum noch möglich. Ich hatte fast ein bisschen Angst, in die Lektüre zu starten. Aber für mich hat sie sich als erstaunlich flüssig erwiesen. Der Stil erinnert an Joyce'schen "Stream of Consciousness". In der "echten" Welt passiert nicht viel - in jedem Kapitel ein bis zwei wichtige Begebenheiten, die im Kopf der Erzählerin zu ungeahnten Verknüpfungen führen. Manchmal rein philosophisch, manchmal ganz konkret als Erinnerung an Vergangenes, das nicht aktiv beschrieben wird. So entsteht ein eigenartiges Mosaik aus Erzähl- und Gedankenstücken, die manchmal repetitiv wirken, meistens aber doch Neues in die Erzählung einbringen und zum Verständnis der Gemeinschaft und der Situation beitragen.

Ein besonderes Kuriosum des Buchs sind die fehlenden Namen. Jeder bekommt von der Erzählerin nur ein Label, wird kategorisiert: Schwester Eins, Zwei, Drei; Schwager Eins, Zwei, Drei; Kleine Schwestern; Älteste Freundin; Milchmann und Echter Milchmann; Vielleicht-Freund; und so weiter und so fort. Das hält alles irgendwie auf Abstand, macht es universeller, aber auch weniger verbindlich.

Es ist klar, dass die Geschichte im Nordirland der 70er Jahre spielt. Eine Gemeinschaft, gebeutelt von einer totalitären Herrschaft der Verweigerer-Terroristen. Gruppenbildung ist eines der zentralen Motive des Romans. Katholiken vs. Protestanten; Iren vs. Briten; Verweigerer vs. alle; Verweigerer-Groupies vs. Erzählerin; fromme Frauen vs. Themenfrauen (= Feministinnen). Es gibt allerlei kuriose Randgestalten in dem Roman, die in keine Gruppe passen und deshalb als "die Übergeschnappten" bezeichnet werden. Sie genießen einen merkwürdigen Sonderstatus, werden belächelt, sind in ihrer Merkwürdigkeit aber unantastbar. Und das will was heißen, denn Antastbarkeit bedeutet, dass die Gemeinschaft deine Geschichte schreibt. Das muss die Erzählerin am eigenen Leib erfahren. Die Gerüchte rund um sie und den Milchmann entwickeln ein Eigenleben, jeder will etwas gesehen haben oder etwas wissen. Aus Gerüchten werden für die Gemeinschaft ganz schnell Tatsachen, und die Erzählerin kann sich dagegen kaum wehren. Das zeigt auf beklemmende Weise, wie eng das Denken in solchen Gemeinschaften ist und wie jeder Einzelne darunter zu leiden hat. Es gibt Rollen zu erfüllen, und was nicht passt, wird passend gemacht.

Wer symbolische Elemente nicht mag, der ist mit diesem Roman falsch bedient. Denn Symbolismus macht einen großen Teil der Erzähldynamik aus. Einerseits gibt es die stereotypen Gruppen, andererseits die überzeichneten Außenseiter, die mit ihren Eigenarten für etwas Größeres stehen. Das Tablettenmädchen für die Angst, die Erzählerin mit ihrem Lesen-im-Gehen für den Frieden und die Ruhe, der Echte Milchmann für die Freundlichkeit. Die Farben des Sonnenaufgangs stehen symbolisch für das geistige Erwachen ("Der Himmel ist also nicht nur blau!"), die drei Kleinen Schwestern sind mit unter 10 Jahren schon Genies und fungieren als eine Art griechischer Chor. Szenen in unheimlichen Stadtgebieten, die Erzählerin mit dem Kopf einer toten Katze im Taschentuch, der Milchmann mit vier Schattengestalten - das mutet surreal an, manchmal schon kafkaesk.

Der Roman ist also vor allem ein kleines Kunstobjekt, voll mit hochwertigen, tiefgreifenden philosophischen Gedanken zum Thema Individualismus, Krieg, Gemeinschaft, Selbstständigkeit, Feminismus, etc., erzählt auf verschlungenen Pfaden und mit scharf geschliffenen Worten. Gegen Ende häufen sich die "echten" Ereignisse, aber es zerfasert auch zusehends. Das Schnörkelige verliert sich, mit dem Ende tut sich das Buch keinen Gefallen. Es ist, als würde die Luft aus einem zum Platzen gefüllten Ballon leise und lahm entweichen. Der große Knall bleibt aus, die Erzählerin rückt genauso schnell wieder in den Hintergrund wie sie plötzlich im Rampenlicht stand. Ein Epilog wäre toll gewesen, denn die Erzählerin berichtet aus der Zukunft. Es ist eine Erinnerung, und der weitere Lebensweg der Erzählerin wäre für mich sehr spannend gewesen.

Nein, das ist kein einfaches Buch, und es ist kein Buch für gemütliche Abende am Kamin. Es ist symbolbeladen, unbequem und manchmal ermüdend. Aber es ist auch einzigartig, sowohl erzählerisch als auch stilistisch. Ich verbuche es unter: Erfahrung!