4,5 Sterne: Eindringlicher, intensiver Roman über menschliche Fehler, Schwächen und Schuld

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* Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht bei einer HBO-Therapiesitzung, bei der die PatientInnen mit purem Sauerstoff versorgt werden, um damit unter anderem Autismus zu heilen, ein Sauerstofftank in Flammen auf. Es war Brandstiftung. Kitt, Mutter von fünf Kindern, und Henry, ein achtjähriges Kind, sterben, drei weitere Menschen werden schwer verletzt. In einem Gerichtsprozess soll nun geklärt werden, wer das Feuer gelegt hat. Auf der Anklagebank sitzt Elizabeth, Henrys Mutter. Doch sie ist nicht die Einzige in Miracle Creek, die Geheimnisse hat…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive (im Wechsel)
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + Eine Mücke wird getötet, ein Hund stirbt (wird nur kurz erwähnt) und Tierversuche werden angesprochen. Ansonsten werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt, Suizid, Tod von Menschen (Erwachsene und Kind) und schwere Verletzungen durch Feuer, Rassismus, Misogynie

Warum dieses Buch?

„Miracle Creek“ hat mich sofort angesprochen. Der Klappentext klang nämlich so vielversprechend! Die Geschichte erinnerte mich an "Kleine Feuer überall" von Celeste Ng, das ich auch sehr mochte. Das Buch hat außerdem schon sehr viel Lob erhalten und wurde von einigen Magazinen zu einem der besten Bücher des Jahres gewählt - das machte mich zusätzlich neugierig!

Meine Meinung

Einstieg (4 Sterne)

Obwohl die Geschichte am Anfang nur langsam ins Rollen kommt, dauerte es nicht lange, bis ich ins Buch fand. Das Buch konnte mich aufgrund des eindringlichen, unaufgeregten Schreibstils sofort in seinen Bann ziehen. Ich wollte unbedingt weiterlesen.

Schreibstil (4 Lilien)

"Eine Tragödie macht einen nicht immun gegen weitere Tragödien, und Schicksalsschläge werden nicht gerecht hier und da verteilt - mit Unglück wird klumpenweise, gebündelt nach einem geworfen, unkontrollierbar und chaotisch." Seite 10

Ich liebe den Schreibstil von Angie Kim! Sie schreibt relativ komplex und anspruchsvoll (ihre oft verschachtelten Sätze gehen nicht selten über mehrere Zeilen), dabei aber sehr flüssig und angenehm lesbar. Ihre unaufgeregte, ruhige Sprache ist unheimlich eindringlich und voller wunderschöner Vergleiche und Beschreibungen. Am meisten beeindruckt hat mich aber, wie unvergleichlich nuanciert sie Menschen beschreibt: ihre Gefühle in allen Schattierungen, ihre Gedanken, ihre Gesten, Blicke und Mimik. Großartig!

Inhalt, Themen & Ende (4 Lilien ♥)

„‘Wir haben alle hin und wieder Gedanken, für die wir uns schämen.‘“ Seite 481

Menschliche Fehler und Schwächen und ihre tragischen Folgen – sie machen den Kern dieses tragischen, intensiven und berührenden Romans aus, der auch euch nicht kaltlassen wird. Es geht in „Miracle Creek“ um jene düsteren Gedanken, die wir uns verbieten, um Seiten an uns, die wir verleugnen, um starke negative Emotionen wie Neid, Frustration und Kränkung, um Lügen und Fehler, die man nicht wiedergutmachen kann, und um Bereuen und brennende Schuldgefühle. Diese Themen behandelt die Autorin emotional und tiefgründig und bringt uns dazu, über unsere eigenen Unzulänglichkeiten nachzudenken. Wer von uns hatte noch nie einen unangemessenen, düsteren und verwerflichen Gedanken, auch wenn er uns nur einen Sekundenbruchteil durch den Kopf geschossen ist? Wer hat noch nie einen Anflug von Neid verspürt, wenn einer anderen Person etwas gelingt, das man sich schon lange wünscht? Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein! Und: Wer hat auch diese Gefühle sofort verdrängt und verurteilt und sich selbst einen schlechten Menschen geschimpft? Dieses Buch hat mich, auch wenn ich gerade nicht gelesen habe, nicht mehr losgelassen. Solche Bücher sind doch die besten, oder? Die offene Schilderung von Fehlern und Schwächen hilft vielleicht auch, eigene unerwünschte Gefühle ein Stück weit zu akzeptieren und als menschlich anzunehmen.

Neben Rassismus, Heimat und den Schwierigkeiten, die Migration mit sich bringt, wird auch Gewalt in der Erziehung und wie erschreckend weit verbreitet und alltäglich sie immer noch zu sein scheint, angesprochen – hier muss sich endlich etwas ändern! Sehr interessant fand ich zudem, dass verschiedene Menschen sich an eine Situation ganz unterschiedlich erinnern und diese auch ganz unterschiedlich bewerten. Und keine Sorge: Auch positive Themen wie Liebe, Familie und Freundschaft haben Einzug in die Geschichte gefunden.

Noch etwas anderes ist in „Miracle Creek“ ganz zentral: die Abwesenheit der Väter. Im Mittelpunkt stehen Mütter von Kindern mit Behinderung und ihre Liebe, aber auch ihre Probleme, ihre Fehler und Schwächen, ihre hohe Verantwortung, ihr Ganz-allein-für-alles-zuständig-Sein, ihre Überforderung, ihr Verzicht und alles, was sie aufgeben müssen. Unweigerlich stellt man sich eine Frage: Wo sind eigentlich die Väter? „Miracle Creek“ zeichnet leider ein authentisches, trauriges Bild unserer Gesellschaft, das leider der Wahrheit entspricht: Wenn es schwierig wird, sind es oft die Männer, die gehen und die Frauen, die ganz selbstverständlich bei ihrem Kind bleiben und am Ende ganz alleine dastehen. Mehr dazu beim Unterpunkt „Feministischer Blickwinkel“.

Für mich war „Miracle Creek“ bis zur gelungenen Auflösung und zum runden, mich zufrieden zurücklassenden Ende ein wahrer Lesegenuss! In der Geschichte, die aus mehreren Perspektiven erzählt wird und viele Rückblenden enthält, werden Stück für Stück neue Puzzleteile und überraschende Geheimnisse offenbart, wodurch sich ein richtiger Sog einstellt. Die spannende Gerichtsverhandlung mit ihren unerwarteten Wendungen wechselt sich hierbei auf gelungene Weise mit ruhigeren Schilderungen des Privatlebens der Figuren ab.

„Gute und schlechte Dinge – jede Freundschaft, jede Liebe, jeder Unfall, jede Krankheit – waren das Ergebnis der Verschwörung hunderter Kleinigkeiten, die jede für sich genommen vollkommen belanglos waren.“ Seite 500

ProtagonistInnen (5 Lilien ♥) & Figuren (5 Lilien ♥)

Die Figurenzeichnung ist ohne Zweifel eine der größten Stärken des Romans: Durch Kims nuancierte Schilderungen der Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen, durch deren authentische Schwächen, Träume, Zweifel und Ängste, wirken sie sehr plastisch und dreidimensional. Man fühlt und leidet unheimlich intensiv mit den liebevoll ausgearbeiteten Figuren mit und identifiziert sich mit ihnen. Auch die Nebenfiguren sind durchgehend sehr lebendig beschrieben und sehr gut gelungen. „Miracle Creek“ zeigt, dass es leider oft gute Menschen sind, die Fehler machen, die schlussendlich in eine Tragödie münden.

Spannung & Atmosphäre (4 Lilien)

Eine gewisse Grundspannung ist im Buch durchgehend vorhanden, ebenso wie zahlreiche hochemotionale und atemlos spannende Momente. Jedoch bricht der Spannungsbogen hin und wieder auch ein. Mir hätte etwas mehr Tempo an manchen Stellen gut gefallen, aber das ist Kritik auf hohem Niveau, denn auch so war ich mit „Miracle Creek“ und seiner dichten Atmosphäre sehr zufrieden.

Feministischer Blickwinkel (2 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++, Hu++

„‘Mein Mann ist das überhaupt nicht gewöhnt, sich um die Kinder zu kümmern.‘ […] ‚Bei mir genau das Gleiche. Hoffentlich ist der Prozess schnell vorbei.‘“ Seite 155

„Miracle Creek“ enthält viele starke und interessante Frauenfiguren und besteht problemlos den Bechdel-Test. Außerdem ist die Feministin Janine ein echter Lichtblick. Leider gibt es aber auch einiges, was ich kritisieren muss. Angie Kim, eine ehemalige Anwältin, die sich selbst als Feministin beschreibt, hat zwar eine Art authentische Milieustudie über das Leben von Müttern von Kindern mit Behinderung geschrieben und zeigt darin auf, wie sehr die Frauen unter der Belastung, ganz alleine für alles verantwortlich zu sein, leiden, aber sie kritisiert diese Situation meiner Meinung nach nicht deutlich genug. Stattdessen wird (vielleicht auch unabsichtlich) der Mythos der Mutter, die sich selbst für ihr Kind aufgibt, gefördert. Warum gibt es keinen einzigen Vater, der mit seinem Kind zur Therapie fährt? Warum sind es die Männer nicht gewohnt, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern? Das ist doch einfach nur traurig!

Das Buch enthält viele Rollenstereotype und besonders in Youngs Familie herrscht (bedingt durch Einflüsse aus der koreanischen Kultur) eine sehr traditionelle Rollenaufteilung, bei der der Mann als Familienoberhaupt Befehle verteilt und Entscheidungen trifft und bei der die Frau still zu sein und diese auszuführen hat, was mir als Feministin ebenfalls nicht gefallen hat. Zum Beispiel schreibt Young ihre Masterarbeit nicht fertig, weil ihr von ihrer Mutter gesagt wird, dass kein Mann eine besser ausgebildete Frau haben möchte. Auch wenn es zumindest bei einer weiblichen Figur im Laufe des Romans eine positive Entwicklung gibt, lassen sich die Frauen in diesem Buch (mit Ausnahme der einzigen Feministin Janine) viel zu viel von den Männern gefallen!

Auch die Doppelmoral hat mich wütend gemacht: Als eine Ehefrau vermutet, dass ihr Ehemann (der ihr die Treue geschworen hat!) eine Beziehung zu einer Minderjährigen unterhält, stellt diese nicht etwa ihren schuldigen Mann zur Rede, sondern beschimpft lieber die vermeintliche Affäre (die single ist und somit keine Verpflichtungen hat) als Hu++ und Schlam++. Das ist wieder ein wunderschönes Beispiel für verinnerlichte patriarchale Werte, Schuldumkehr und Slut Shaming! Ich würde mir wünschen, dass die Autorin beim Thema Geschlechterstereotype noch etwas sensibler wird und dass ihre feministische Einstellung beim nächsten Buch stärker Einzug in den Text findet. Dann gibt es auch alle Sterne!

Mein Fazit

„Miracle Creek“ ist ein intensiver, tragischer und berührender Roman über menschliche Fehler, Schwächen und Schuld, der auch euch nicht kaltlassen wird. Das lag vor allem am wunderbaren Schreibstil von Angie Kim: Sie schreibt relativ komplex und anspruchsvoll (ihre oft verschachtelten Sätze gehen nicht selten über mehrere Zeilen), dabei aber sehr flüssig und angenehm lesbar. Ihre unaufgeregte, ruhige Sprache ist unheimlich eindringlich und voller wunderschöner Vergleiche und Beschreibungen. Am meisten beeindruckt hat mich aber, wie nuanciert sie Menschen beschreibt: ihre Gefühle in allen Schattierungen, ihre Gedanken, ihre Gesten, Blicke und Mimik. Großartig! Die Figurenzeichnung ist ohne Zweifel eine der größten Stärken des Romans: Die Figuren haben authentische Schwächen, Träume, Zweifel und Ängste und wirken dadurch sehr plastisch und liebevoll ausgearbeitet. Man fühlt und leidet unheimlich intensiv mit ihnen mit. Es geht in „Miracle Creek“ (neben positiven Themen wie Liebe und Freundschaft) um die düsteren und verwerflichen Gedanken und Gefühle, die wir uns verbieten, um Seiten an uns, die wir verleugnen, um schwerwiegende Fehler und um Bereuen und brennende Schuldgefühle. Diese Themen behandelt die Autorin emotional und tiefgründig. Noch etwas anderes ist in „Miracle Creek“ ganz zentral: die Abwesenheit der Väter. Im Mittelpunkt stehen Mütter von Kindern mit Behinderung und ihre Liebe, aber auch ihre Probleme, ihre hohe Verantwortung, ihr Frust, ihre Überforderung und ihr Verzicht. Unweigerlich stellt man sich eine Frage: Wo sind eigentlich die Väter? „Miracle Creek“ zeichnet zwar (leider!) ein authentisches (und trauriges) Bild unserer Gesellschaft und zeigt auf, wie sehr Mütter unter der Belastung, ganz alleine für alles verantwortlich zu sein, leiden, aber sie hinterfragt und kritisiert diese Situation meiner Meinung nach nicht deutlich genug. Problematisch fand ich auch die traditionellen Rollenbilder, die Geschlechterstereotypen und die Doppelmoral (inklusive Slut Shaming). Dafür gibt es einen halben Stern Abzug. Ich würde mir wünschen, dass die Autorin im nächsten Buch sensibler mit diesen Aspekten umgeht und dass sich ihre feministische Einstellung stärker im Text spiegelt. In der Geschichte, die aus mehreren Perspektiven erzählt wird und in der sich die spannende Gerichtsverhandlung mit ruhigeren Schilderungen des Privatlebens der Figuren abwechselt, werden Stück für Stück neue Puzzleteile und überraschende Geheimnisse offenbart, wodurch sich ein richtiger Sog einstellt. Mir hätte etwas mehr Tempo an manchen Stellen gut gefallen, denn hin und wieder bricht der Spannungsbogen ein, doch auch so war ich mit „Miracle Creek“ und seiner dichten Atmosphäre sehr zufrieden. Für mich war der Roman jedenfalls bis zur gelungenen Auflösung und zum runden Ende ein wahrer Lesegenuss! Daher kann ich euch dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen! Lest „Miracle Creek“ aber nur, wenn ihr den Kopf in den nächsten Tagen nicht freihaben müsst. Denn: Ihr könnt das Buch zwar zuklappen, die Geschichte wird euch aber nicht mehr loslassen!

Wer dieses Buch mochte, mag wahrscheinlich auch:
„Kleine Feuer überall“ von Celeste Ng
„Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 5 Lilien ♥
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
ProtagonistInnen: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 4 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 2 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 ♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien und ein Herz und damit den Lieblingsbuchstatus!