Lebenslügen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
schmiesen Avatar

Von

"Das war das Problem mit Lügen: Man lieferte sich ihnen komplett aus. Wenn man einmal gelogen hatte, musste man an der Lügengeschichte festhalten."

Bei einer alternativen Heilbehandlung in einer HBO-Kammer kommt es zu einem tragischen Unglück: der kleine Henry und Kitt, Mutter von fünf Kinder, verbrennen bei lebendigem Leib. Henrys Mutter Elizabeth gilt schnell als Hauptverdächtige und kommt vor Gericht. Wollte sie wirklich ihren autistischen Sohn loswerden, und gleich dazu ihre kritische Freundin Kitt? Die Beweislage scheint eindeutig, doch nach und nach kommen allen Beteiligten Zweifel an Elizabeths Schuld.

Am Anfang scheint alles so klar zu sein: Elizabeth sitzt als Mordverdächtige auf der Anklagebank. Ihr wird vorgeworfen, ihren autistischen Sohn Henry und ihre Freundin Kitt hinterhältig ermordet zu haben, indem sie die Hochdruckkammer, in die reiner Sauerstoff gepumpt wird, in Brand gesteckt hat. Ihr Verhalten vor Gericht, angebliche Beweise über Kindesmissbrauch und merkwürdige Notizen und Internetrecherchen scheinen dieses Verdacht zu bestätigen. Auch alle anderen Beteiligten und Opfer glauben fest an Elizabeths Schuld. Doch nach und nach tauchen Indizien und Widersprüche auf, die eine eindeutige Verurteilung ausschließen. Und genau hier wird das Buch mörderisch spannend.

Jede an dem Vorfall beteiligte Person bekommt in Angie Kims Debütroman eine Stimme. Die koreanische Familie, der das Unternehmen Miracle Submarine gehört, Elizabeth, Teresa (eine andere Mutter, die mit ihrer Tochter regelmäßig HBO gemacht hat), Matt (auch ein Patient) und seine Frau Janine. Unglaublich viele Einzelheiten werden so Stück für Stück zutage befördert - und hier liegt auch einer der wenigen Knackpunkte dieses Gerichtsdramas. Manchmal wird es einfach zu kompliziert, der gleiche Sachverhalt wird aus zig Perspektiven durchgewälzt, bis man als Leserin irgendwie komplett den Überblick verliert und auf die Auflösung wartet. Die ist zwar gelungen, aber durchaus kein solcher Schockmoment, wie zu erwarten wäre. Im Grunde wird deutlich: Alle sind in gewisser Weise schuldig.

Die große Stärke des Romans liegt in der Darstellung all der unterschiedlichen Lebensrealitäten, die in der unwirklichen Welt des Miracle Submarine aufeinander treffen. Wohl aus eigener Erfahrung schildert Kim das Leben einer mittellosen koreanischen Einwandererfamilie in den USA. Die Eltern verlassen die Heimat, um dem Kind ein besseres Leben bieten zu können, doch das geht ziemlich nach hinten los. Die Familienmitglieder entfremden sich, Verzweiflung und Unmut machen sich breit, und das alles ist aus den Perspektiven von Young, Pak und Mary sehr eindringlich geschildert. Nebenbei erfährt man auch noch etwas über die koreanische Kultur, insbesondere über die stagnierten Geschlechterrollen und das ausgeprägte Bewusstsein für Status und Autorität.

Elizabeth, Kitt und Teresa haben wiederum mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, die Kim nicht weniger einfühlsam schildert. Ihre Kinder leiden alle unter einer mehr oder weniger schlimmen Form der Behinderung: Henry ist Autist, gilt aber bereits als geheilt; Kitts Sohn TJ ist schwerer Autist, ohne Aussicht auf Besserung; und Teresas Tochter Rosa leidet an Zerebralparese und ist seit 10 Jahren schwerstbehindert. Also völlig unterschiedliche Lebenswelten, aber doch ein gemeinsames Thema: Die völlige Aufopferung des eigenen Lebens für ein behindertes Kind. Elizabeth und Teresa schildern die Zerrissenheit zwischen dem Wunsch, das Kind gesund oder wenigstens glücklich und gut versorgt zu wissen, dem Wissen um die eigentliche Unheilbarkeit dieser Krankheiten und die dadurch entstehende ewige Belastung, und der Wut auf dieses Leben ohne Freiheit äußerst eindringlich. Wie alle anderen Mütter auch haben sie Tage, an denen sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn das Kind nie zur Welt gekommen wäre. Sie haben manchmal einen unbändigen Hass auf dieses Leben voller Einschränkungen und Belastungen, die sie durch ihre Kinder erfahren. Aber vor allem lieben diese Frauen ihre Kinder, und von anderen Müttern unterscheiden sie sich vornehmlich dadurch, dass diese sie immer wieder darauf aufmerksam machen, dass weder sie noch ihre Kinder jemals dazugehören werden. Sie umgibt eine tiefe, traurige Einsamkeit, die kein Mensch aushalten kann.

Weniger interessant ist der Handlungsstrang rund um Matt, Mary und Janine, da solche Eheprobleme und merkwürdigen Beziehungen zu Minderjährigen schon ziemlich oft durchgekaut worden sind. Dennoch ist es Kim gelungen, die ewige Geheimniskrämerei (insbesondere zwischen Matt und Janine und Young und Pak) spannend zu gestalten und immer wieder zu zeigen, wohin die ganzen Lügen führen. Die Leute verstricken sich darin, bis sie beinahe ersticken, doch keiner traut sich, die Wahrheit zu sagen, weil jeder denkt, er hätte etwas zu verlieren. Dabei haben sie eigentlich bereits alle schon das Wichtigste verloren: ihren Seelenfrieden.

Kim hat ein beeindruckendes Debüt vorgelegt, das authentisch auslotet, wohin uns Lügen und Geheimnisse führen. Sie versteht es, Lebensdramen einfühlsam zu schildern und ganz unterschiedliche Themen glaubhaft in einem Roman unterzubringen. Am Anfang wird das Format der Gerichtsverhandlung der Story zwar nicht ganz gerecht, aber im Laufe der Geschichte hat sich auch dieses allmähliche Aufdecken von Beweisen und Gegenbeweisen als Spannungsmoment entpuppt, der die Lebensgeschichten wie Kleister zusammengehalten hat. Am Ende wird alles aufgelöst, wem es also bisweilen zu komplex und unübersichtlich wird, braucht sich nicht mit Knobelei aufzuhalten, sondern kann ganz entspannt zu Ende lesen.