Ein ganz guter Kurz-Krimi

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Das Buch „Misfits – ein Manifest“ von Michaela Coel, gefeierte und preisgekrönte Drehbuchautorin, Regisseurin, Produzentin und Schauspielerin, beinhaltet die aus dem Englischen übersetzte Rede der Autorin, die sie 2018 als Gastrednerin im Rahmen des Edinburgh International Television Festivals gehalten hat. Umrahmt wird der Redetext von einer Art literarischem Vor- und Nachwort, in dem Michaela Coel selbst etwas zum Schreibprozess im Vorfeld äußert sowie auch die Nachwirkung ihrer Rede thematisiert.
In ihrer Rede streift sie knapp ihre Kindheit in einem Sozialwohnungskomplex und beschreibt auch, wie sie im Alter von 8 Jahren erstmals in Berührung mit einem Theater kam. Schonungslos berichtet sie auch von den unschönen Seiten ihres Aufwachsens, zu denen psychische Gewalt ebenso gehörte wie Beleidigungen, Gelächter, Diskriminierung und (Cyber-)Mobbing sowie Sexismus. Schließlich schafft sie es an die Schauspielschule, als erstes Schwarzes Mädchen, merkt aber auch dort, dass sie anders ist, vor allem fehlt ihr ein entsprechendes „Sicherheitsnetz“, sie stammt nicht wie die anderen aus einem wohlhabenden Elternhaus. In dieser Zeit schrieb sie auch die Komödie „Chewing Gum Dreams“, mit dem sie dann den Durchbruch schaffte. Sie steigt in die Fernsehbranche ein, hat dort aber zunächst einen schwierigen Start und fühlt sich abermals als Außenseiterin. Sie schreibt drei fünfminütige Szenen fürs Internet, die so erfolgreich sind, dass sie grünes Licht für die Produktion einer Serie mit dem Titel „Chewing Gum“ bekommt. Dies verhilft Coel zum Durchbruch.
In ihrer Rede nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund, sie hält der Branche einen Spiegel vor und scheut sich auch nicht davor, klare Missstände anzusprechen. Dafür greift sie auf eigene Erfahrungen zurück. Zunächst einmal erläutert Coel ihre eigene Definition des Begriffs „Misfit“. Misfits, so Coel, streben nach Transparenz und wollen die Sichtweise anderer Personen verstehen. Sie selbst sei ein Misfit und bei Produktionsfirmen seien Misfits hoch im Kurs, weil diese oft profitabel sind. Doch der Medienbranche selbst fehle es genau an einer solchen Transparenz und Empathie. Das wird nur allzu deutlich, wenn man den Ausführungen der Autorin weiter folgt. Sie bringt dafür einige Beispiele aus ihrer persönlichen Geschichte und leitet daraus auch Konsequenzen ab. Dies macht sie aber interessanterweise selten in Form von expliziten, konkreten Forderungen, sondern oft stellt Coel lediglich passende Fragen an die ZuhörerInnen, so dass diese selbst zu den entsprechenden Schlussfolgerungen, was die Änderung der Zustände betrifft, gelangen sollen. So regt sie diese beispielsweise zum Nachdenken darüber an, ob es nicht besser sei, wenn neue Kulturschaffende mehr Vertrauen und Freiraum erhielten, um sich alleine zu entwickeln. Sie schildert auch den Zeit- und Kostendruck, unter dem sie selbst stand, und beschreibt die intransparente Verhandlungspolitik von Produktionsfirmen, der sie selbst ausgesetzt war. Sie erläutert, dass Einsparungen der Produzenten oft zulasten der Autoren gemacht werden, und Produzenten oft austesten, wie weit sie gehen können und womit sie durchkommen. Nach ihrer Erfahrung widersprächen Menschen einer anderen Hautfarbe seltener, weil sie Angst vor Jobverlust oder negativen Konsequenzen hätten. Kulturschaffende Misfits haben nach ihrer Einschätzung kaum Chancen auf einen sozialen Aufstieg, bestimmte Türen bleiben ihnen verschlossen. Sie thematisiert auch eine Sexismus- und Rassismus-Erfahrung, die sie auf einer After-Party durch einen Produzenten erlebt hat und ist der Auffassung, dass Produzenten zu viel Macht haben. Und nicht zuletzt geht sie auf ein sehr persönliches, intimes Schicksal ein und will damit auch aufzeigen, wie sehr man in der Medienbranche unter Erfolgsdruck steht: Sie erwähnt, dass sie vergewaltigt wurde, nachdem sie durch K.O.-Tropfen betäubt worden ist. Dennoch habe sie vor allem an die Deadline gedacht, die sie habe einhalten müssen. Den Umgang mit ihrem Leid habe sie als wenig empathisch und als intransparent empfunden. Sie fragt aus diesem Grund, ob es in der Medienbranche genügend Empathie und Unterstützung für die Psyche gibt, und zwar für alle.
Michaela Coel erscheint in dieser Rede als sehr streitbare, meinungsstarke und intelligente Frau, sie ist mutig und nicht angepasst, sie prangert Missstände an und wünscht sich eine Verbesserung der Zustände in Form von mehr Transparenz und Empathie. Wohl aus diesem Grund hat man dem Buch den Untertitel „Manifest“ gegeben. Es ist eine sehr persönliche Rede. Sie zeigt auch, dass Coel selbst eine Ausnahmeerscheinung ist, denn sie hat den sozialen Aufstieg erreicht und hat sich durchgesetzt. Trotz der vielen widrigen Umstände und Schicksalsschläge hat ihre Lebensgeschichte einen positiven Verlauf genommen. Das mag für viele als Inspiration dienen. Auch kann das Lesen durchaus zum Nachdenken über das eigene Leben anregen. Ich selbst habe durch die Lektüre der Rede auf jeden Fall einen neuen Diskurs wahrgenommen. Es ist eine Erweiterung der #metoo-Debatte. Inwieweit die Aussagen und Erfahrungen von Coel auf die deutschsprachige Medienlandschaft übertragen werden können, wird sich noch zeigen, wenn dieses Buch breiter rezipiert werden sollte.

Fazit: Eine inspirierende Rede einer meinungsstarken, streitbaren und intelligenten Frau, die mutig Missstände der Medienbranche anprangert und dabei sehr persönliche Einblicke gewährt.