Eine Anthologie moderner Weiblichkeit

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
ver.le.sen Avatar

Von

Wie schon in ihrem ersten Welterfolg "Kim Jiyoung, geboren 1988“ gibt uns Cho Nam-Joo einen ungeschönten Einblick in die Lebenswelten südkoreanischer Frauen unserer Zeit.
Acht sehr unterschiedliche Frauen und acht sehr unterschiedliche Geschichten, die eines eint: sie repräsentieren die Erfahrungen vieler anderer Frauen in Südkorea und weltweit, die sich Misogynie am Arbeitsplatz, hatespeech, cybermobbing, ihrer Rolle als Mutter,Tochter,Ehefrau oder der Sorge um ältere Angehörige ausgesetzt sehen.
Manche der Geschichten fand ich stärker als andere, aber beeindruckt hat mich vor allem, dass die Autorin so viele unterschiedliche Lebenssituationen glaubhaft vermitteln kann. Von der Teenagerin bis zur alten Halmoni werden die alltäglichen Sorgen und Ängste jeder einzelnen Person auf sehr achtsame und ernsthafte Weise behandelt. Das hat in mir noch einen anderen Gedanken geweckt: lese ich eigentlich wirklich vielfältig oder hauptsächlich Geschichten, die meine eigene, eng gefasste Lebenswirklichkeit thematisieren? Allein, dass meine Aufmerksamkeit auf die Unterrepäsentation älterer Menschen in der Literatur gelenkt wurde, ist die Lektüre schon wert gewesen. Neben dem so angenehm leichten Schreibstil und dem Talent der Autorin, die LeserInnen mit zwei Sätzen mitten in die story hineinzukatapultieren, natürlich.
Viele, wenn nicht alle Geschichten dieser Anthologie, bieten sich als Romangrundlage an. Manchmal aber liegt ein größerer Gewinn in der kurzen, knackigen story, die länger im Leser nachhallt als der 300-Seiten-Roman. Zugleich zeugt es vom großen Können der Autorin, denn seien wir mal ehrlich: nichts ist schwieriger, als sich kurz zu fassen und trotzdem die Themen auf den Punkt zu bringen. Cho Nam-Joo kann das mit so viel lebenserfahrener Geradlinigkeit und Empathie, dass ich mich schon darauf freue, mehr von ihr zu lesen.