Frauenfeindlichkeit hat viele Gesichter

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jenniferbihr Avatar

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“Am Anfang dachte ich, ich könnte den Kontakt zu den Freundinnen, die dir unsympathisch sind, einfach heimlich aufrechterhalten und mich weiterhin mit ihnen treffen. Selbst im Restaurant hast du mich nie gefragt, was ich essen wollte, sondern einfach für mich entschieden. Ich bin darüber hinweggegangen, habe mich dir angepasst und mir immer wieder eingeredet: Das ist nicht so wichtig, es ist nur zu meinem Besten. Aber tief im Inneren bekam ich langsam Zweifel. Jetzt, wo ich beruflich mit verschiedensten Menschen zu tun habe und mehr von der Welt sehe, erkenne ich, wer ich eigentlich bin. Mir ist klar geworden, dass ich bisher keinerlei Einfluss darauf hatte, in welche Richtung mein Leben ging.” (S.173)

“Miss Kim weiß Bescheid” ist ein wirklich besonderes Buch für mich.
Es wurde von der koreanischen Autorin Cho Nam-Joo geschrieben und durch den Kiepenheuer & Witsch - Verlag 2022 im Deutschen veröffentlicht. Cho Nam-Joo zeigt in fünf Kurzgeschichten, wie es ist, als Frau in Korea aufzuwachsen und zu leben.

Als ich dieses Buch endlich in den Händen hielt, wusste ich noch nicht, was mich erwarten würde. Ich habe mir vorgestellt, die Geschichten unterschiedlicher Frauen zu lesen, die einen ähnlichen Ausgangspunkt haben: Also dass sie aus gesitteten Verhältnissen stammen, gebildet sind und mit unterschiedlichen Arten von Misogynie konfrontiert werden.
Stattdessen habe ich Geschichten erhalten, die Generationen übergreifend zeigen, wie die Lebenssituationen in Südkorea für Frauen sind: Von klein auf bis ins Rentenalter.

Die Handlungen sind dabei sehr unterschiedlich und zeigen unterschiedliche Aspekte von Misogynie auf - angefangen mit der ersten Geschichte: Cho Nam-Joo beginnt mit der Geschichte einer Rentnerin, die über ihr Leben reflektiert. Demenz, Älterwerden und Familienbanden werden thematisiert. Eine andere Geschichte wiederum behandelt das Leben einer Autorin, die langsam erkennt, welchen Effekt und Einfluss sie auf ihre Leserschaft hat, die wiederum sie als Projektionsfläche für ihre eigenen Erfahrungen sehen. Wieder eine andere Geschichte zeigt, wie schnell man sich in toxischen Beziehungen verlieren kann, bis man nur noch eine Hülle ist, ohne jemals Selbstwirksamkeit erfahren zu haben.
Cho Nam-Joo thematisiert aber auch Schwangerschaft, Mutterschaft, ausbeuterische Arbeitsbedingungen und insgesamt eine Gesellschaft, deren Strukturen zu viel von Frauen auf einmal verlangen.
Dabei griff Cho Nam-Joo auch innerhalb einer Kurzgeschichte mehrere Perspektiven auf, um auch einen intergenerationellen Blickwinkel zu ermöglichen - diese Perspektiven sind bis auf die letzte Kurzgeschichte ausschließlich weiblich.

Der Schreibstil ist ein Besonderer - abhängig von der Geschichte, die Cho Nam-Joo uns erzählen wollte, kamen wir den Figuren unterschiedlich nah. Mal war die Perspektive emotional, mal selbstkritisch, mal total distanziert. Dabei hatte Cho Nam-Joo den Mut, unterschiedliche Zeitabschnitte miteinander zu verweben, was ihr, außer in "Der Pflaumenbaum”, hervorragend gelungen ist. Diese Perspektivenwechsel nutzte sie geschickt um ein ganzheitliches Bild über die Figuren und ihre derzeitige Situation zu zeichnen, das mich mitriss.

Insgesamt war dieses Buch ein tolles Erlebnis: Der Schreibstil sorgte dafür, dass ich gespannt auf die Handlung blieb, während die Handlungen zeigten, wie ähnlich Frauen auf der Welt leben und Erfahrungen sammeln.
Mein Highlight war aber das erwähnte Essen in den unterschiedlichen Geschichten, da ich koreanisches Essen liebe und am liebsten alles direkt nachgekocht (oder ehrlicher: bestellt) hätte.

Deswegen kann ich “Miss Kim weiß Bescheid” allen empfehlen, die sich für die Lebenssituation von Frauen in anderen Ländern und Kulturen interessieren und einen Blickwinkel erhalten möchten, der mehrere Generationen übergreift.