Deprimierend und wichtig

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aennie Avatar

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Neschwitz in Ostsachsen. Ein kleiner Ort, in der Nähe von Kamenz und Bautzen. Hier wachsen Philipp und sein Bruder Tobi auf, geboren Anfang / Mitte der 1990er Jahre. Nachwendezeit, die Eltern bauen ein Haus, raus aus der Platte. Hier gibt es Sorben und zweisprachige Ortsschilder, Steinbrüche und Tongruben im Wald, stillgelegte Fabriken und brachliegende LPG-Betriebe. Viel Platz, viel Leere, die sich auch in den Menschen nach der Wende spürbar findet. Alles ist anders, auch elf Jahre nach der Wiedervereinigung, im Jahr 2000, als die Handlung des Romans einsetzt, fühlt sich das noch so an. Die Mär der blühenden Landschaften im Osten muss sich wie ein Albtraum anfühlen. Und wie Vereinigung schon mal gar nicht.
In dieser Atmosphäre erhält der Leser einen Einblick in das Leben der beiden Jungs, man bekommt ein Gespür dafür, wie sich die äußeren Umstände in den Menschen, ihrem Reden und vor allem ihrem Nichtreden, ihrem Fühlen manifestieren. Philipp und Tobi wachsen in einer Welt ohne Antworten auf. Auch wenn sie Fragen stellen, z.B. nach einem ausgebrannten Balkon in Hoyerswerda, fährt der Opa lieber schnell daran vorbei. Aufklärung findet nicht statt. Latenter Rassismus ist oftmals gegenwärtig, man schimpft über die Polacken auf der Autobahn, über die katholischen Sorben, denen es immer viel besser gehe, und die „Bonzen“, Lehrer, Beamte, Ärzte, sind auch nicht viel besser. Rietzschel zeigt in drei Abschnitten des Buches, vereinfacht gesagt, Philipps und Tobis Grundschulalter (2000-2004), Jugendzeit (2004-2006) und jungem Erwachsenenleben (2013-2015), was diese Umstände mit ihnen machen. Wie Sprachlosigkeit und Schweigen sich wandeln in Gewalt, Vandalismus und Fremdenhass. Wie zwei Brüder damit umgehen, was sie in Dingen und Menschen sehen, wie sie sich, ihre Rollen in den gewählten Gruppen und in „ihrem“ Land besetzen und welche Auswirkungen es auf sie hat.
Bis zum letzten Abschnitt ist unklar, welcher Bruder mehr zu was tendiert, wer sich tiefer hinab ziehen lässt in rechte Gewalt, wer „nur“ zum Mitläufer taugt, wer zum Täter wird, denn in diese Richtung tendieren zwischenzeitlich beide. Das Buch endet offen. Unklar, wie die Wege der beiden weiter verlaufen, es sieht so aus, als könne sich zumindest einer teilweise lösen, der andere vielleicht nicht. Vielleicht aber doch, weil dann da doch noch ein Fünkchen „mehr“ ist. Etwas auf das man hoffen kann, aber nur vielleicht. Und das ist genauso traurig, wie die Atmosphäre über weite Strecken des Buches. Und auch das passt, denn es ist ein trauriges, ein schwieriges, ein wichtiges Thema und Buch. Happy-End nicht angebracht.
Man kann sich der dem Buch voran gestellten Meinung des Verlegers nur anschließen: ja, „Mit der Faust in die Welt schlagen“ ist ein wichtiges Buch. Es ist kein einfaches Buch, es deprimiert, es macht mitunter wütend und man schüttelt den Kopf vor Unverständnis. Mich hat es sehr bewegt und ich habe auch immer, wenn ich es zur Seite legte, weiter darüber nachdenken müssen. Es liefert keine Erklärungen, erzählerisch gesehen für mich „show not tell“ in Bestform. Rietzschel schildert Verhältnisse in Ostsachsen, Beziehungen zwischen Menschen, macht auf Sprachlosigkeit, Verschlossenheit und Perspektivlosigkeit aufmerksam, lässt den Leser Tristesse und Ausweglosigkeit der Protagonisten spüren. Er erklärt nicht, „und so wurde aus xy ein Nazi, deshalb ist er in diese Kreise geraten, deshalb macht er da jetzt mit und redet so. Das passiert alles, und der Leser muss es sich für sich selbst finden zu erklären, warum das so ist. Mir hat das sehr gut gefallen, weil für mich das vorherrschende bei diesem Buch wirklich das Fühlen der herrschenden Atmosphäre, die Natur der zwischenmenschlichen Beziehungen und das Fühlen des Einzelnen war, welches dann eben zu etwas führt. Man kann es versuchen anhand dessen nachzuvollziehen (nicht zu verstehen) und zu einem Schluss kommen. Wobei der tatsächliche Schluss des Buches an sich für mich ein offener ist. Ein interpretationsfähiger – zum Glück. Auch wenn mir verschiedene Varianten möglich erscheinen, ist doch eine - vielleicht tatsächlich nur langfristig – positive Deutungsoption enthalten. Und das möchte ich einfach hoffen.
Fazit: Lesen. Und darüber reden. Das finde ich ganz wichtig. Lest Artikel, die zum Buch erschienen sind oder schaut Berichte an, vor allem wenn ihr aus dem Westen kommt, hier geboren seid und nie im Osten gelebt habt. Mir hat eine Leserunde wirklich sehr beim Verstehen des Gesamtgefüges in Sachsen, der Nachwendezeit geholfen, ohne die ich vieles einfach in meinem Unverständnis der Situation hätte versumpfen lassen müssen, so hat mehr Hintergrundwissen in diesem Fall für mich entscheidend zum Gesamtverständnis des Buches beigetragen.