Poesietherapie und Systemkritik

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Elisa sucht und findet von klein auf Halt, Orientierung und Trost in Büchern - im Heim in denen aus der Leihbücherei, in Buchgeschenken ihrer Mutter (die mit fünfzehn schwanger mit ihr wurde und sich in Buchhandlungen unwohl fühlt), später als angehende Buchhändlerin in den Gedichten Mascha Kalékos. So beginnt jedes Kapitel mit einem Gedicht der Dichterin, und die nun 39jährige Protagonistin erzählt ihrem Idol ihre Lebensgeschichte. Der Stil ist ungewöhnlich, assoziativ, elliptisch. Mich hat das Buch gefesselt.

Individualpsychologisch ein gelungenes Beispiel für eine Selbsttherapie mithilfe der Poesietherapie. Denn die Spuren der Vernachlässigung und Gewalt schlagen sich auch in Elisas individuellen psychiatrischen Diagnosen nieder, die jedoch ebenso misogyn sind wie die Gewalt, die dazu führte.

Um sich von den "Therapien", die Elisa im System der "Jugendhilfe" erhielt, zu erholen, hätte sie wiederum eine Therapie gebraucht. Auch war das "christliche" Heim kein Ort der Sicherheit und Geborgenheit, sondern der sexuellen Übergriffe durch den Leiter. Sie floh letztendlich in Obdachlosigkeit und Punkerinnendasein, wo sie wieder Gewalt von allen Seiten - Punkern, Partnern, der Polizei - erlitt. Doch ihr Lebensdurst und ihre Suche nach Intensität trieben sie auch an. Das "(Hilfe)system" stempelte sie als dessen "Sprengerin" ab, doch einzelne Sozialarbeiter*innen gaben ihr Halt. Neben den Büchern.

Ein Roman von gesellschaftspolitischer Relevanz.  Aus der Danksagung und den anderen Veröffentlichungen der Autorin wird deutlich, dass er stark autobiographisch geprägt ist. So machte ihre psychiatrische Diagnosensammlung noch eine Wendung, als bei ihr im Erwachsenenalter ADHS, Autismus und Dyspraxie diagnostiziert wurden, welche als entwicklungsbedingte Neurodivergenzen eigentlich in der Kindheit hätten festgestellt werden müssen, jedoch besonders bei Mädchen und Frauen oft übersehen werden. Und welche nicht nur mit Behinderung einhergehen können, sondern oft auch mit Kreativität, Neugier, Zähigkeit und der Fähigkeit, immer wieder neu anzufangen, wodurch sie nicht nur Absolventin in Sozialer Arbeit, sondern auch Schriftstellerin geworden ist.

Auf Bluesky schrieb Sarah Lorenz vor wenigen Monaten:

"Finally die endgültige Erklärung für dieses unendlich anstrengende Gehirn: ich habe drei Diagnosen: ADHS, aber auch Autismus und Dyspraxie. Ich wusste es, aber wer glaubt einem schon? Endlich bestätigt. Wie anders hätte exakt ALLES sein können, hätte ich die Diagnosen als Kind bekommen."

Eine klare Empfehlung - aber der Käufer möge bedenken: "Eine echte Buchhandlung muss Kopfsteinpflaster vor der Tür haben."

Vielen Dank an den Rowohlt-Verlag und "vorablesen" für den Buch"gewinn" (welcher mit der Verpflichtung zur Rezension verbunden ist).