Mit 20 hat man kein Kleid für eine Beerdigung

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espérance Avatar

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Allein der Titel kündet von einer traurigen Geschichte, die auf besondere Art und Weise erzählt wird.
Tatsächlich ist er ein Zitat aus dem Buch und spiegelt perfekt den Stil, in dem die Story gehalten ist, wider.

Beatrice ist in einer von Armut, Gewalt und Alkohol regierten Gegend Italiens aufgewachsen. Ihre Eltern versuchten zwar, so gut es geht für sie und ihre Geschwister zu sorgen, aber der Zustand des Verfalls und der Perspektivlosigkeit zog sich durch ihr ganzes Leben. Die Familie hat sich in einem Mehrfamilienhaus einquartiert, ohne für die Wohnung Miete zu bezahlen. Sie haben sie einfach "besetzt" und müssen in stäniger Vorsicht leben, dass nicht jemand anderes kommt, die Schlösse austauscht und die Wohnung ebenfalls "besetzt", sodass die Familie obdachlos ist.
In der Wohnung darüber war vor 12 Jahren ein alleinerziehnder Vater mit seinen drei Söhnen eingezogen. Diese verprügelte er regelmäßig, wenn er zu viel getrunken hatte und die Schmerzenschreie der Kinder ließen Beatrice oft nicht schlafen. Die Polizei zu rufen war keine Option, denn die kommen sowieso nicht in diese Gegend.
Eines Nachts weckten unglaublich schlimme Schreie das gesamte Haus auf und alles stürmte zu der Wohnung des alleinerziehenden Vaters. Auch Beatrice - damals 8 Jahre alt - schlich mit hinauf, denn sie wollte sehen, was passiert war. Und das tat sie dann auch: auf dem Boden lag der zweitälteste Sohn des Mannes - bewegungslos und mit eine riesigen Platzwunde am Kopf; nur noch zu vereinzelten Schlurzern fähig. Alfredo wurde gerettet und das war der Tag, an dem Beatrice und Alfredo unzertrennlich wurden. So unzertrennlich, dass sie überall im Viertel nur "die Zwillinge" genannt wurden.

Und jetzt ist Alfredo gestorben. Beatrice befindet sich auf seiner Beerdigung und lässt ihr gemeinsames Leben, das viel zu kurz war, Revue passieren.
Die Sprache, die sie verwendet, zeugt von tiefer Trauer und appelliert definitiv an die emotionale Seite des Lesers. Gleichzeitig schildert sie alles trotzdem irgendwie nüchtern, als würde sie das ganze als unbeteiligte Person von Außen betrachten. Sie verdrängt ihren Schmerz, während sie ihn gleichzeitig zulässt und erlebt eine individuelle Trauer um ihren Freund. In der Leseprobe erfährt man schon einiges über den Charakter dieser jungen Frau, die eigentlich viel zu jung ist, um auf einer Beerdigung zu sein und sich trotzdem auf einer befindet. Voller Gegensätze ist sie und hat trotzdem ein erstaunlich geradliniges Denken.
Die Geschichte findet auf mehreren Zeitebenen statt und es gibt immer wieder Sprünge zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, sodass sich die Geschichte langsam entfalten kann.
Kurz: die Leseprobe hat mich restlos davon überzeugt, dass es sich hier um einen vom Inhalt her tragischen und vom Schreibstil her wunderbaren, feinfühligen und künstlerischen Roman handelt, der definitiv einen nähreren Blick verdient.