Neuorientierung

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heike lohr Avatar

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Ein philosophisches Fachbuch über die Lebensmitte zu rezensieren fällt schwer. Eigene Erfahrungen und philosophische Betrachtungen werden in diesem Buch eng miteinander verknüpft, so dass ein wunderbares Lesevergnügen dabei entsteht.
Nichts ist spannender, als diese Mischung aus gutem Einblick in unterschiedliche philosphische Positionen und bekannten Statements aus dem Leben gegriffen.
Ja, man liest wirklich oft von Menschen, die noch einmal beruflich umgesattelt haben, ihren Durchbruch mit fünfzig oder sechzig in Schauspielerei, Kunst oder universitärer Laufbahn hatten. Es gibt immer wieder Menschen, die beruflich umsatteln, Priester werden und ihre Lebensposition anderweitig vollkommen verändern.
Die Lebensmitte ist mit der Midlifecrisis gleichzusetzen, manchmal. Schließlich sind manche Lebensfragen beantwortet, manche Türen geschlossen und der Tod nahe stehender Menschen wird immer häufiger erlebt.
Das Spielen und Denken alternativer Lebensformen nimmt zu, doch das kann entweder beängstigend oder ermutigend sein. Auch wenn in der Literatur und Philosophie die Lebensmitte negativ konnotiert wird - wie bei Simone de Beauvoir, die das Alter über fünfzig schon als Sterben empfindet, so wie Dante Aligheri in der Göttlichen Komödiw als auch Tolstoi es wie ein Sich-Verlaufen in der Wildnis empfinden, so darf man nicht auch den krisenfreien Umbruch in der Lebensmitte vergessen.
Der Begriff der Midlifecrisis als Entdeckung eines Phänomens bei Künstlern, die in der Lebensmitte eine Blockade ihrer Schaffenskraft hatten, geht auf den Psychoanalytiker Elliot Jacques zurück.
Die U-Kurve der Lebenszufriedenheit weist in der Lebensmitte eine Talsohle auf, die allmählich wieder ansteigt bis zu einem Knick im hohen Alter.
Die Autorin setzt sich auch kritisch mit dem Begriff des Bereuens von Lebensentwürfen und Zielen auseinander. Gerade in der Lebensmitte schaut man auf sein Leben zurück und fragt sich, ob es anders hätte verlaufen können, ob man nicht andere Träume oder überhaupt Träume hätte verwirklichen sollen. Ziele wurden nicht erreicht, andere Pläne umgesetzt als geplant. Vielleicht sind die unerfüllten Träume doch diejenigen, die man hätte verwirklichen sollen. Doch nun geht es nicht mehr. Bereuen sollte man die unerfüllten Träume nicht, Bedauern zu empfinden ist für die Psyche besser, weil dieses Gefühl nicht so blockierend wie Bereuen ist.
Bedauern setzt mehr Kräfte frei, etwas an einem festgefahrenen Leben zu ändern als Bereuen. Bereuen ist ein Gefühl, unwiderruflich etwas nicht mehr ändern zu können, und nimmt die Kraft, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dieser Gedanke gefällt mir und gibt mir Hoffnung.
Unser Mindset entscheidet, ob wir mit dem Erreichten und dem Nichterreichten, dem Wissen der Begrenztheit unserer Zeit etwas Positives anfangen oder nicht.
Michel de Montaigne hält sich den Tod immer gegenwärtig, um das Leben zu lernen, indem wir das Sterben lernen. Sinn zu finden ist eine unserer Lebensaufgaben, die nur durch integrierte Erfahrungen bewältigt werden kann. Schließlich können wir nichts Erlebtes einfach im luftleeren Raumstehen lassen, nur weil es uns nicht gefällt oder wir es nicht als wesentlich betrachten. Auch das Negative müssen wir in unser Leben und unseren Weg integrieren. Denn nichts Schlechtes passiert, ohne dass nicht etwas Gutes auch dabei ist.
In diesem Sinn regt dieses Buch zum Nachdenken über die eigene Position an, erschließt neue Mindsets, wenn wir wollen. Ein nachdenkliches und ermutigendes Leseerlebnis, das ich jedem/jeder empfehlen kann. Ich fühle mich in meinem Alter auf einmal sehr viel wohler.