Klassischer Whodunit mit Nostalgie-Flair

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babsiemarie Avatar

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"Mord in der Charing Cross Road" ist genau das richtige für einen faulen Strand- oder Sonntag. Es ist ein klassischer Whodunit-Krimi in der Tradition von Agatha Christie: Ein unbeliebter Kollege, Grabscher und Petze vom Dienst, wird erstochen. Praktisch die gesamte Belegschaft kann mit einem Motiv aufwarten und jeder hätte theoretisch Zugang zur Tatwaffe. Die Aufklärung folgt dem klassischen Modell, bei dem nach und nach falsche Alibis entlarvt werden. Das haben sich die Angestellte Sally und Juniorchef Johnny zur Aufgabe gemacht. Sally ist es auch, aus deren Perspektive die Geschichte konsequent erzählt wird – inklusive einer sich anbahnenden zarten Liebesgeschichte.
Henrietta Hamilton schreibt präzise und strukturiert, das liest sich flott. Wie es für diese Art von Kriminalroman typisch ist, lässt die Autorin ein ganzes Karussell an Verdächtigen aufmarschieren. Nachdem sie diese im ersten Kapitel anschaulich skizziert hat, versieht sie ihre Nebenfiguren allerdings zu selten mit charakteristischen Verhaltensweisen, die sich mir als Lesender einprägen. Von daher ist hier und da ein Zurückblättern angesagt, um sich zu vergewissern, beim wem es sich um Miss Mundle oder Mrs Weldon denn eigentlich nochmal gehandelt hat. Tatzeit und Tatort widmet Hamilton deutlich mehr Aufmerksamkeit. Bisweilen verliert man sich allerdings auf den verschiedenen Treppenabsätzen und Fluren, in Keller- und Nebenräumen. Auch gerät ihr an sich angenehm sachlicher Stil für meinen Geschmack bisweilen zu protokollarisch, wenn Johnny und Sally über mehrere Seiten mögliche Tathergänge konstruieren und verwerfen.
Punkten tut das Buch in jedem Fall mit seinem Setting. Mitte der 1950er-Jahre verfasst gewährt es Buchliebhaber:innen einen lebendigen Eindruck in den Betrieb der für ihre Antiquariate berühmten Charing Cross Road. Diesen Betrieb kannte Hamilton aus eigener Anschauung, da sie selbst in einem Londoner Antiquariat gearbeitet hat. So beschreibt sie das Netzwerk der Buchhändler, Verkaufsstrategien, Preisgestaltung und – kriminelle Machenschaften. Amüsant ist ihre Schilderung skurriler, verschrobener und arroganter Käufer; auch hier spürt man als Lesender ihre eigenen Erfahrungen mit Kunden.
Außerdem lässt Hamilton durchblicken, wie sehr die Menschen in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre noch von den traumatisierenden Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs geprägt waren. Das spielt zwar eine untergeordnete Rolle, bleibt aber durch die Geschichte hinweg präsent. Gleiches gilt auch für die Beziehung zwischen Sally und Johnny. Hamilton verzichtet auf schmachtende Blicke und langatmige innere Monologe im Stil von "liebt er mich, liebt er mich nicht ...". Ein versehentlich entschlüpfter Kosename hier, eine verwirrende Berührung dort: solche dezenten Hinweise genügen, um zu erkennen, was sich zwischen den beiden entspinnen könnte.