Großartiger Kriminalroman, gespickt mit trockenem schwarzem Humor, wie ihn die Briten nicht besser hinbekommen würden.

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arsastrologica Avatar

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Diese auf 42 kurze Kapitel über gut 300 Seiten verteilte Gesellschaftssatire in Form eines Thrillers gehört für mich zu den literarischen Entdeckungen des Jahres und entschädigt für die Masse der gut gemeinten, aber schlecht geschriebenen Krimis, die mangels Fantasie und Mut zum Wagnis auf den deutschen Buchmarkt geworfen werden.

Nicht noch einer dieser politisch korrekten, aber blutrünstigen Orgien, in denen wehrlose Frauen gelyncht und von ach so kompetenten Anatomen aufgeschnitten werden, kein billiger Skandinavienthriller-Abklatsch, in dem das angebliche Grauen dort draußen in den Wäldern auf einen wartet, keine gut gemeinte Inzest- oder Missbrauchs-Skandalisierung, der man doch das geschäftsmäßige Auftragsgeschreibsel ansieht. Und vor allem: nicht schlecht geschrieben. Und das muss bei Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt schon etwas heißen!
Zudem: Die Autorin kann schreiben. Ihr Personen- und Dialogentwicklung ist exzellent. Kein Wort zu viel, keine nervenden Adjektivitis, diese unter derzeitigen in Deutschland publizieren Autoren grassierenden Füllwörterkrankheit, keine langatmigen Erklärungen, Infodumping oder den Erzählstrom hemmende Rückblenden, fließend ohne zu stocken zu inneren Gedankenströmen wechseln. Ich-Perspektive ohne irritierende Wechsel zum allwissenden Erzähler. Das Präsenz, die Gegenwartsform treibt die Handlung voran. Dass jeder der vielen kleinen Kapitel mit einem unaufdringlichen Cliffhanger versehen ist, macht das Buch zum Pageturner. Man liest es in einem Stück und ist gebannt - obwohl die Autorin auf besagte Blutrunstorgien verzichtet. Wer gut schreiben kann, braucht solche Effekthascherei nicht.

Eine Psychotherapeutin, die durch zufälliges Gerangel mit der heimlichen Geliebten zur Mörderin wird (im Grunde unbeabsichtigter Totschlag) und auf eine fiese Erpressung hin Lust auf Massenmorden bekommt. Unwillkürlichen denkt man an Jeff Lindsays Dexter-Romane und die gleich US-amerikanische Kriminal-Fernsehserie, im deutschsprachigen Synchron auf Sky, RTL II und ORF 1 ausgestrahlt. In der Frankfurter Allgemeine bemerkte die Rezensentin Nina Rehfeld zur Serienerfolg, es sei eine schwarze Tragikomödie begonnen, die mit der Zeit immer düsterer geworden sei. Hand unsere Zeit mit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, dem Aufstiegen rechtsradikalen Parteien in Europa und Trumps überwältigenden Wahlsieg in den USA nicht an Düsterkeit ebenfalls zugenommen – rechtfertigt dies nicht vielleicht einen belletristischen Widerhall?
So könnte man in Kürze zusammenfassen, was Lilly Pabst schreibt. Ein Pseudonym, das die Autorin - im wahren Leben Psychotherapeutin und Mutter von zwei Kindern - wählt, um ihr Privatleben zu schützen. Ihre fachliche Kompetenz lässt sich an den inneren Dialogen ablesen, die sie ihrer Heldin Sophie Stach, einer Coachin und psychoanalytischen Supervisorin, in den Kopf setzt. Und hier setzt auch der dramaturgische Trick der Autorin an: Immer dann, wenn im Leser moralische Zweifel an der Legitimation der zunehmend psychopathischen Heldin hochkommen, werden diese im Roman von gnadenlos selbstkritischen Reflexionen der Krimiheldin gekontert.

Es gibt kein plattes Gut und Böse in diesem Kriminalroman. LeserInnen werden ständig aufgefordert, den eigenen moralischen Kompass zu hinterfragen. Die Ungelöstheit dieses inneren Konflikts äußert sich im offenen Ende, das Erwartungen enttäuscht, wonach wie im Märchen stets das Gute über das Böse siegen muss. Open End: ein allerletzter Cliffhänger, der mich als Rezensenten fiebern lässt nach der nächsten Folge dieser Krimiserie.