Herzergreifend

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
fraedherike Avatar

Von

"Er klopfte mit einer Hand auf seinen Oberschenkel und forderte Kajan auf, sich daraufzusetzen und seine kleinen Hände auf Cornelius' große zu legen. [Cornelius schlug die Tasten an.] In der Musik klang alles an: Kajan Freude über den Augenblick, der Frieden, den Cornelius für den Moment gefunden hatte, Kajans Träume, Cornelius' Hoffnung auf ein neues Leben. In jenem Augenblick wurde etwas geboren, doch wohin es ihn führen würde, konnte Kajan damals noch nicht ahnen." (S. 27)

Es ist das Jahr 1943, in Europa herrscht Krieg. Freiheit scheint ein Wort ohne Bedeutung, wie einer fremden Sprache entnommen, deren Klang ihnen nicht vertraut ist. Doch auch mit dem Wort „Krieg“ kann Kajan nichts anfangen. Gemeinsam mit seinem Großvater Betim wohnt der kleine Junge in einem kleinen Dorf in Nordalbanien, nahe des Flusses Drin. Seine Eltern hatten ihren einzigen Sohn zurückgelassen, um ihn zu schützen, während sie für den Frieden kämpften, für ihr Land, doch ob sie ihn jemals wiedersehen, wer weiß das schon. Still leben sie, zurückgezogen, sicher – bis eines Tages ein deutscher Deserteur in ihrem Dorf auftaucht: Cornelius. Man hatte ihn eingezogen, einen Pianisten, gezwungen wurde er – jeder Mann wurde an der Front gebraucht –, getrennt von seiner Frau, seinem kleinen Sohn, die schon kurz nach seiner Abreise starben. Und mit ihnen auch ein Teil von ihm, sein Lebenswille. Betim nimmt ihn auf, wachsam und misstrauisch, aber Kajan ist neugierig, er möchte den fremden Mann in Uniform kennenlernen. Über die Musik lernen sie einander kennen, fassen Vertrauen und sehen wieder Hoffnung in dunklen Zeiten: Cornelius gibt Kajan Klavierunterricht, die Musik wird die Sprache, die sie verbindet. Die Sprache, die Kajans Herzenslied wird, die ihm fünfzehn Jahre später Ansehen bringen und in die Arme der Liebe seines Lebens führen wird.

"Du musst die Musik nicht hören, die Musik ist in dir drin." (S. 74)

Es ist eine Liebe, die nicht sein soll: Elizabeta ist die Tochter eines Regimekritikers, niemals würde Kajans Mutter, eine hochrangige Kommunistin, ihrer Beziehung zustimmen. Da kommt es umso gelegener, dass Kajan nach Ostberlin reisen soll, um Albanien bei einem Konzert mit Künstlern und Musikerinnen aus Osteuropa zu vertreten, zumal er als der talentierteste Pianist seines Landes gilt. Es soll das letzte Mal für lange Zeit gewesen sein, dass er albanischen Grund berührt; eine Reise voller Angst, Sehnsucht und Kummer, die ihn für immer verändern soll. Und immer ist da: die Musik.

"Wo Kultur ist, sind auch Ideen, und die Ideen sind nicht immer auf einer Linie mit dem politischen Denken des Landes. Wir befinden uns im Krieg, heute mehr denn je, doch es ist ein stiller Krieg und umso gefährlicher." (S. 213)
.
Mit leisen Tönen beginnt "Morgen und für immer", der Debütroman von Ermal Meta (aus dem Italienischen von Peter Klöss), zärtliche Durtöne plätschern vom Fluss nahe des kleinen Bauernhauses her, ab und an durchdrungen vom kläglichen Versuch des kleinen Kajan, dem Klavier Töne zu entlocken. Schon früh sah sein Großvater etwas in ihm, sah, dass er mit der Musik einmal etwas Großes erschaffen würde. Und er sollte recht behalten.
.
Ungemein empathisch und lebendig, zuweilen brutal und schmerzhaft beschreibt Ermal Meta den Weg, den Kajan geht, das Verhältnis zu seinem unerschütterlichen Großvater, der mir sehr ans Herz gewachsen ist, seine Verbindung zu Cornelius, der ihm den Schlüssel in die Hand legen sollte, den Weg zu finden, der für ihn bestimmt scheint - und den er selbst nicht gehen konnte. Die Musik. Sie ist allgegenwärtig, das verbindende Element zwischen Menschen und Zeiten, in Krieg und Frieden; eine Sprache, die keine Worte bedarf. Die Grenzen übertritt und Wege öffnet in eine neue Zukunft. Es ist die Musik, die Kajan den Händen seiner Mutter entriss, einer landesweit bekannten Politikerin, die ihn seiner Freiheit, seiner Liebe entriss, ihn wegschickte, um ihr Ansehen zu wahren. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Kajan wird zum Spielball der Regime, nirgends scheint er sich. Er flüchtet: aus Albanien nach Ostberlin, über die Mauer - und landet schließlich in den USA. Ein Neustart, niemand kennt ihn, niemand weiß um sein Talent. Hier kann er, muss er jemand anders sein, neuer Pass, neues Leben. Doch immer ist es die Musik, die ihn am Leben hält, ihm Hoffnung gibt.
.
Mitreißend und gefühlvoll flicht Ermal Meta unterschiedliche Perspektiven um die Coming-of-Age-Geschichte Kajans herum, erzählt vom Schicksal seiner Eltern an der Kriegsfront, seiner Familie, von seinem Großvater; sie sind die Instrumente, die die zarten, immer kräftiger, raumfüllender werdenden Klänge seines Klavier untermalen, ihn an Strahlkraft dazugewinnen lassen - und die Sinfonie abrunden. Dynamisch wechselt das Erzähltempo zwischen lauten und leisen Tönen, folgt jedoch immer der Grundmelodie, chronologisch vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. Von Beginn an war ich ungemein gefesselt von der liebevollen, gewitzen Sprache, den Ungewissheiten, die die Zeiten des Kriegs für Kajan und seine Familie bereithalten könnten, von Kajans Reise oder vielmehr Flucht, doch gegen Ende hin zogen sich manche Passagen in die Länge, die Musiker müde ob der Länge des Konzerts - und dennoch hörte ich ihnen noch so gerne zu, auch wenn die Achtel- zu halben Tönen wurden, die Luft allmählich weg war. Ein paar Seiten weniger, ja, das wäre meiner Meinung nach nicht verkehrt gewesen, hier und da ein wenig gekürzt, aber die Geschichte hat auch so keinesfalls an Kraft und Gefühl eingebüßt.
.
"Morgen und für immer" ist nicht nur eine Liebeserklärung an die Musik, es ist eine wunderbare Geschichte über einen Jungen, der für seinen Traum kämpft, so hart das Schicksal ihm auch zuzusetzen meint, eine Geschichte über Liebe und Freundschaft. Ein ganz besonderes Buch, das ich nicht vergessen werde.