Schnitzeljagd durch Nachkriegsdeutschland

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annajo Avatar

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Palästina, 1946: Die junge Jüdin Lilya Wasserfall ist Mitglied des Widerstands gegen die britische Besatzung Palästinas. Doch statt die Expertin für Dechiffrierung an einem entscheidenden Schlag gegen die Briten zu beteiligen, bekommt sie die Aufgabe, einen verschollenen und totgeglaubten jüdischen Wissenschaftler in Deutschland aufzuspüren. In der Hoffnung, die Aufgabe schnell abschließen und die Hoffnung des Bruders möglichst rücksichtsvoll, aber dezidiert zerschlagen zu können, findet sie sich plötzlich auf einer Schnitzeljagd durch Nachkriegsdeutschland und muss feststellen, dass jemand ganz und gar nicht mit ihrer Suche einverstanden ist.

Dieser Roman spielt in einer traumatisierten Welt, der erst langsam bewusst wird, was in Deutschland geschehen ist oder in der viele es noch immer nicht begreifen können: "Zeichne ein Ungeheuer auf einen Bierdeckel, und es bleibt immer noch ein daumengroßes Tier." (S. 28). Viele entwurzelte Überlebende streben nach Palästina, doch dieses ist noch ein Herrschaftsgebiet der Briten. Außerdem gibt es Spannungen mit der arabischen Bevölkerung.
Dieser Roman schneidet eine Bandbreite an Themen an. Zum einen geht es um die britische Herrschaft in Palästina und deren Willkür. Auch die Widerstandsbewegung wird beschrieben sowie die Konflikte zwischen den einzelnen Splittergruppen und ihre unterschiedlichen Auffassungen vom bevorzugten Vorgehen. Die Arbeit von Hilfsorganisationen wird thematisiert und auch die Lager für displaced persons, exemplarisch am Lager Föhrenwald. Oft blieben die Überlebenden weiterhin auf den KZ-Geländen untergebracht (z.B. Bergen-Belsen). Mit den verschiedenen Stationen Lilyas werden immer wieder neue Themen aufgegriffen. Trotz der Vielfalt ergibt dies ein stimmiges Bild und macht Nachkriegsdeutschland sehr plastisch. Dies geschieht sicherlich auch dadurch, dass das Buch nicht mit Informationen zu den einzelnen Aspekten überladen ist. Dafür bietet das Nachwort weiterführende Informationen.
Und letztlich wird die historische Situation vor allem an einem Einzelschicksal verdeutlicht. Denn all die angesprochenen Thematiken sind nicht zentraler Punkt der Handlung, sondern bilden eher eine Kulisse für eine spannende Schnitzeljagd, bei der Lilya von einem Hinweis zum nächsten und von einem Ort in Nachkriegsdeutschland zum nächsten reist. Auf den Fersen ist ihr dabei jemand, der nicht möchte, dass die Ereignisse um den jüdischen Wissenschaftler Raphael Lind aufgedeckt werden. Dadurch erhält dieser Roman eine ordentliche Portion an Spannung ohne eigentlich ein Spannungsroman zu sein. Gleichzeitig bleibt die Handlung glaubhaft. Und besonders beeindruckt hat mich die Liebesgeschichte, geschildert aus der Sicht einer Frau, geschrieben von einem männlichen Autor. Hier gibt es keine deplatzierten Sexszenen oder unglaubhaften Gefühlsausbrüche. Eher gedeiht hier ein zartes Pflänzchen in einer feindlichen Welt, ohne zu wissen, ob es überleben wird.
Beeindruckt haben mich auch die Parallelen zur aktuellen Flüchtlingssituation. Da sich das Buch aber auch der Entwurzelung widmet, ist das kaum verwunderlich. Viele der Figuren in diesem Buch suchen noch nach ihrem (neuen) Platz in der Welt.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die individuelle Geschichte vielleicht zu sehr im Vordergrund stand und für mich das Elend der Überlebenden und die Weltpolitik noch hätten etwas mehr Raum erhalten können.

"Morgenland" war ein spannendes Leseerlebnis mit glaubhaften Figuren und ernstem Hintergrund. Die Handlung ist komplex und bietet einen guten Einblick in die Situation Palästinas. Der Schreibstil ist ansprechend und anspruchsvoll, mit schönen Metaphern und Gleichnissen. Beim Lesen hat man nicht das Gefühl, historisch belehrt zu werden, sondern das Wissen wird hintergründig und dezent vermittelt. Trotzdem fühlt man sich nach dem Lesen bereichert.