Es sind die kleinen, intensiven Momente, die unser Leben verändern…

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gaudbretonne Avatar

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Genau das wird bei der Lektüre des Romans „Mut. Machen. Liebe.“ von Hansjörg Nessensohn, welcher auch den Untertitel „Ein Plädoyer für die Liebe“ tragen könnte, deutlich: kleine Momente können diejenigen sein, die das ganze Leben verändern oder prägen. Sie werden unvergesslich und lassen einen zu dem werden, der man ist.

Anfänglich geht es um Liz und Paul, die sich auf einer (Pilger-)Wanderung in Italien eher zufällig und gegen Pauls Willen kennenlernen. So unterschiedlich die beiden Protagonisten auf den ersten Blick erscheinen – eine betagte, aber gesprächige Dame mit Menschenkenntnis und ein trendiger und ebenso schroffer Jugendlicher –, so haben sie doch eine Gemeinsamkeit. Beide tragen einen „Rucksack“ mit Erlebnissen und Geschehnissen herum, die es auf ihrer Reise zu verarbeiten gilt. Der 19jährige Paul wurde vor vier Jahren durch Jonas, seinen ehemals besten Freund und gleichzeitig seine erste große Liebe, mittels eines fiesen Internetvideos ungewollt geoutet. Er fühlt sich seitdem depressiv und identitätslos. Trotz des Verrats kann er Jonas weder vergessen noch ihm verzeihen, denn eine richtige Aussprache hat es nie gegeben. Diese Reise stellt seine letzte Hoffnung dar, herauszufinden, wer er tatsächlich ist. Gleichzeitig will er vergessen und sich der Geschichte eigentlich nicht stellen. Die Amerikanerin Liz hingegen, will sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen und hat sich vorgenommen, auf dem Weg nach Assisi all ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Bereits bei ihrer ersten Begegnung mit Paul erkennt sie seine Nöte und beginnt ihm ungefragt die Geschichte von Helmut und Enzo zu erzählen, die in Köln während der Nachkriegszeit spielt. Diese beiden ungleichen jungen Männer verlieben sich im Sommer 1957 gegen ihren Willen und gegen ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen ineinander. Irgendwann können sie sich ihren Gefühlen nicht mehr widersetzen und stürzen sich in eine heimliche Affäre. Was heute normal scheint, war in der damaligen Zeit in Deutschland durch den Paragraphen 175 StGB eine Straftat. Selbst Helmuts Freundeskreis und Familie hält Homosexualität für eine Abartigkeit. Durch diese Situation gerät Helmut in einen enormen Gewissenskonflikt, der verhindert, dass er seine Liebe zu dem italienischen Gastarbeiter Enzo frei ausleben kann und die für alle Beteiligten tragisch endet…
Auf der weiteren Wanderung lernen sich die ungleichen Pilger besser kennen und Paul erfährt alle Details der Geschichte, die Liz bereits ihr Leben lang mit sich herumträgt und die bei Paul eine Katharsis bewirkt. (Weitere Infos - z.B. zu Liz' Rolle in der Geschichte - werden bewusst an dieser Stelle nicht erörtert, um nicht zu spoilern.)

Beide Handlungsebenen, die sich leserfreundlich durch unterschiedliche Schriftarten abheben, vermögen, den Leser zu fesseln und gleichermaßen zu berühren.
Die symbiotische Freundschaft zwischen der liebenswerten und klugen Liz und dem unsicheren Paul ist etwas ganz Besonderes, nicht nur weil sie sich gegenseitig helfen, ihre jeweilige Vergangenheit zu bewältigen, indem sie tiefgründige Gespräche führen.
Sehr einfühlsam wird auch die Entstehung der Liebe zwischen Helmut und dem lebensfrohen Enzo sowie Helmuts Dilemma, der sich einerseits seiner Verlobten und seiner vaterlosen Familie verpflichtet fühlt und andererseits mit Enzo die Liebe entdecken will, geschildert.
Die sympathischen Charaktere schaffen vielfältige Identifikationsmöglichkeiten und zeigen gleichzeitig die Entwicklung im Umgang mit Homosexualität auf. Der Leser erfährt eindrücklich das Unrecht, das den beiden jungen Männern in den 50er Jahren angetan wurde, bekommt aber auch mit, dass ein Comingout auch heute noch schwierig sein kann, es aber nicht so sein muss. Die zentrale Massage des Romans ist ein Plädoyer für die Liebe und dass es sich lohnt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. So wird Paul zum Protagonisten eines modernen Entwicklungsromans, der erfährt, dass es durchaus die kleinen, intensiven Momente sind, die das Leben verändern und die einen zu dem werden lassen, der man ist.

Nessensohn hat mich nicht nur mit dem gelungenen Plot überzeugen können. Auch sprachlich weist der Text stellenweise hervorragende Ansätze auf, wie z.B. Wortwitz und die Wortschöpfung „traumstumm“. Hier ist allerdings noch Luft nach oben, denn es ist meines Erachtens nicht notwendig, dass Paul anfangs in einer künstlich aufgesetzten Jugendsprache kommuniziert.

Fazit: So ein Plädoyer für die Liebe und für die Realisierung der eigenen Träume sollte gelesen werden, da es zu mehr Akzeptanz von Diversität führt!