Positionen neu überdenken

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leukam Avatar

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Ich bin eine immer noch engagierte Mutter zweier erwachsener Kinder und bei meiner Tochter, meiner Schwiegertochter erlebe ich hautnah mit, was es heißt, heutzutage Mutter zu sein. Allein deshalb hat mich dieses Buch angesprochen
( das Cover war es sicherlich nicht!).
Die Herausgeberin Barbara Rieger versammelt hier die Texte von fünfzehn weiteren deutschsprachigen Autorinnen ; die Jüngste ist Jahrgang 1986, die älteste Jahrgang 1963. Alle setzen sich auf ihre ganz spezielle Weise mit dem Thema „ Mutterschaft“ auseinander. Es gibt fiktionale Texte, aber auch Essays, Briefe, Autobiographisches usw. Im Anhang werden alle Autorinnen kurz vorgestellt.
Ganz aktuell beschäftigt sich eine Schwangere kurz vor der Geburt nicht nur mit den üblichen Fragen und Zweifeln, sondern muss sich auch mit der derzeitigen Bedrohung durch das Virus auseinandersetzen.
Franziska Hauser macht sich in ihrem lesenswerten Aufsatz „ Wechseljahre treffen auf Pubertät, treffen auf Lockdown und erinnern an Mauerfall“ Gedanken über die Unterschiede zwischen Ost und West. In der ehemaligen DDR bekam man Kinder, oft relativ früh, ohne über die Frage nachzudenken, ob man sich diese leisten könne. Denn: „ Das Existieren war billig, der Luxus teuer. Seit der Wende ist es umgekehrt.“ Danach musste sie sich überlegen, wie sie ihren Kindern klarmachen sollte, dass überall greifbarer Luxus nicht zu haben ist, weil nach Abzug von Miete und Essen kaum was übrig bleibt.
Teresa Bücker stellt die provokante Frage: „ Ist es radikal, ein Kind ohne Partner zu bekommen?“ Welche Möglichkeiten haben Frauen mit Kinderwunsch ( 74% der deutschen Single- Frauen ), wenn sie auf Männer treffen, die keine Kinder möchten ( 67% der deutschen Single- Männer ) ? Warten auf bessere Zeiten ? Mit dem Risiko, dass sie bis dahin zu alt sind, um ihren Kinderwunsch zu realisieren. Oder soll sie sich für das Kind und gegen den Mann entscheiden? Wenn ja, braucht es dafür das richtige Umfeld , „… um gemeinsam das Dorf zu bauen, das die Kleinfamilie aus zwei müden Erwachsenen niemals war und sein kann.“
Gleich drei Autorinnen beschäftigen sich mit den Problemen, vor denen schreibende Mütter stehen. Als Gegenbeispiel führt Sandra Gugic einen Jung- Autor an, der seine Schreibkrise überwunden hat, indem er von morgens früh um 8 Uhr bis nachts um 1 Uhr an einem sog. Tagebuch schrieb , „…mit einer Nachmittagspause für die Familie….Ich muss lachen. Ich stelle mir vor, wie seine Partnerin den geplagten Autor von den alltäglichen Unterbrechungen abgeschirmt haben muss, die jedes Familienleben mit sich bringt,…, wie schon Jahrzehnte, Jahrhunderte vor ihr Frauen Raum und Zeit geschaffen haben für die Kreativität ihrer Partner.“
Und die diesjährige Bachmann- Preisträgerin Nava Ebrahimi schreibt : „ Mutter sein und schreiben, das heißt immer an einer Stelle wund zu sein. Entweder es fehlen die Aufträge und Lesungen, oder es fehlt die Zeit mit den Kindern.“ Trotzdem ist es wichtig zu schreiben, auch über Muttersein, denn : „ Kinder haben mein Denken verändert, meinen Blick auf die Welt , auf meine eigene Kindheit, auf meine Eltern, auf Beziehungen insgesamt.“
Gertrud Klemm beleuchtet das Thema Adoption. Sie selbst hat zwei Adoptivkinder, die sie mit fünf und elf Monaten aus Südafrika adoptiert hat. Sie erinnert an den beschwerlichen Weg, von dem langsamen und schmerzhaften Aktzeptieren der eigenen Unfruchtbarkeit über das mühselige Adoptionsverfahren bis zu dem Tag,wo man die Kinder in Empfang nehmen darf.
Das Buch endet mit einem Manifest der Mütter, nicht mehr zu schweigen, sondern ihre Forderungen lauthals zu stellen.
Wie in jeder Anthologie gibt es Texte, die einem sofort ansprechen, andere, die erkämpft werden wollen und solche, die einem ( im Moment ? ) nichts sagen. Doch „ Mutter werden. Mutter sein“ ist ein wichtiges, ein lesenswertes Buch, für alle Mütter, für alle Väter und für alle ohne Kinder. Denn es lädt dazu ein, Positionen neu zu überdenken und zu hinterfragen, Probleme zu erkennen und nach Lösungen zu suchen. Denn die Rolle, die Mütter in der Gesellschaft einnehmen, sagt viel über die jeweilige Gesellschaft aus.