Gut recherchierte Erläuterungen zu neurobiologischen Veränderungen

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plansbymrsgue Avatar

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„Bei vielen von uns tritt der mütterliche Instinkt nicht in Erscheinung, oder jedenfalls nicht so, wie wir es erwartet hatten. Die Fürsorge für ein Neugeborenes ist keine angeborene Fähigkeit. Es gibt keinen Schalter, der umgelegt wird, wenn wir schwanger werden oder unser Baby zur Welt kommt.”
Was passiert, wenn das Baby endlich in deinen Armen liegt und du nicht überschwänglich Freudentränen vergießt? Ist man eine schlechte Mutter, weil man es in dem Moment überhaupt nicht realisieren kann? Nach einem (Not-)Kaiserschnitt ist dieses Erlebnis vielleicht noch krasser: Schwanger - Zack, weg - Baby da!
In „Mutterhirn" erläutert Chelsea Conaboy die neurologischen Veränderungen, die während der Schwangerschaft und nach der Geburt auftreten und die das Verhalten und die Wahrnehmung einer Mutter beeinflussen können. Sie untersucht die biologischen, psychologischen und sozialen Aspekte des Mutterseins und hinterfragt dabei kritisch das gesellschaftliche Verständnis davon. Dabei wirft sie wichtige Fragen auf: Wie wird das Muttersein definiert? Welche Erwartungen und Normen werden an Mütter gestellt? Und wie beeinflusst dies ihr Selbstbild und ihr Leben? Conaboy zeigt auf, wie Mütter oft mit unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden und wie diese Erwartungen zu einem Gefühl von Versagen, Schuld oder mangelnder Erfüllung führen können.
Chelsea Conaboy erklärt, dass während der Schwangerschaft und insbesondere nach der Geburt bestimmte Hormone wie Prolaktin und Oxytocin verstärkt freigesetzt werden. Diese Hormone beeinflussen den Körper und können emotionale Bindungen und das mütterliche Verhalten verstärken. Insbesondere Oxytocin, das oft als das „Bindungshormon" bezeichnet wird, spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung und der Förderung des Fürsorgeverhaltens.
„Das Gehirn verwandelt uns in schützende, nahezu obsessive Hüter, obwohl viele von uns keinerlei Erfahrung darin haben, ein Kind großzuziehen.”
Die neurologischen Veränderungen treten nicht bei allen Frauen in gleichem Maße auf und führen daher nicht zwangsläufig zu einem einheitlichen Erleben des Mutterseins. Was ich besonders interessant fand: dieses Phänomen ist nicht nur auf die Mutter beschränkt, sondern gilt auch für Väter oder nichtbiologische Eltern: „Studien über Väter [...] haben festgestellt, dass die Gehirne von Männern, die sich regelmäßig um ihre Kinder kümmern, sich in verblüffend ähnlicher Weise verändern wie die Gehirne austragender Mütter.”
Die Autorin gibt auch Einblicke in ihre persönliche Erfahrung als Mutter und verknüpft sie geschickt mit den Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Studien, Geschichtsanalysen und Interviews mit anderen Müttern. Dies verleiht dem Buch eine intime und authentische Atmosphäre, trotz der vielen wissenschaftlichen Erläuterungen, die ich teils etwas langatmig empfand. Insgesamt zeichnet sich das Buch durch eine gut recherchierte und fundierte Herangehensweise aus und bietet eine dringend benötigte kritische Reflexion über das gesellschaftliche Verständnis des Mutterseins. Allerdings sollte man sich von langen, wissenschaftlichen Erläuterungen nicht abschrecken lassen.
„Die Wissenschaft hat etwas Entscheidendes zutage gefördert, das ganz offensichtlich in der alten Geschichte vom Mutterinstinkt fehlt: die Zeit. Eine Mutter oder Eltern zu werden, ist ein Prozess.”